43 - Waldröschen 02 - Der Schatz der Mixtekas
Mädchen paßt, denen die Ehrlosigkeit und Pflichtvergessenheit der Eltern zum Fluch wird.
„Haben Sie nie einen Schritt getan, um sich von der Behörde Hilfe zu verschaffen?“ fragte Sternau.
„Nein“, antwortete sie. „Es waren ja mein Vater und mein Bruder.“
„Und nun? Was gedenken sie nun zu tun, mein Kind?“
„Oh“, klagte sie, „ich weiß, daß ich dennoch in die Seine gehen muß.“
„Nein, das sollen Sie nicht. Ich sorge dafür, daß Sie es nicht nötig haben.“
Ihr trauriges Angesicht klärte sich auf, und mit einem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen fragte sie:
„Mein Gott, ist dies Wahrheit? Sie wollen mir wirklich helfen, ohne daß es dem Vater und dem Bruder Schaden bringt?“
„Ja, ich werde helfen, und, wenn es zu umgehen ist, jeden Schaden vermeiden.“
„O Monsieur, wie dankbar wollte ich Ihnen sein“, rief sie entzückt. „Man hat mich zu den verachteten gezählt, aber ich bin nicht schuld daran. Ich will ja gern arbeiten; ich will gern alles tun, um Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Glauben Sie es mir?“
„Ich glaube es Ihnen“, erwiderte er. „Wo wohnen Sie?“
„Wir wohnen in einem Hinterhaus der Rue St. Cloy.“
„Das ist allerdings ein schlimmes Quartier. Zu einer in dieser Winkelstraße liegenden Hinterwohnung kann man kein Vertrauen haben.“
Da öffnete sich die Tür, und die Wirtin trat ein.
„Hier ist der Fliedertee“, sagte sie. „Ah, Sie sind wieder zu sich gekommen, mein Kind?“
„Ja“, antwortete das Mädchen. „O Madame, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben!“
„Ich tat es gern. Sie haben nur diesem Herrn zu danken. Trinken Sie schnell den Tee, damit die Schmerzen aufhören. Ah, da kommt ja unser braver Gardon wieder.“
Wirklich trat der Matrose wieder ein. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, die mit herein wollten, von ihm aber bedeutet wurden, zurückzubleiben.
„Hier, mein Herr, sind Ihre Sachen“, sagte er.
„Ah, sie sind nicht verlorengegangen?“ fragte Sternau.
„Nein, ein Polizist hatte sie an sich genommen.“
„Und er gab sie Ihnen ohne Weigerung?“
„Wie Sie sehen. Er kannte mich. Ja, Monsieur, der Matrose Gardon ist hier als ein ehrlicher Mann bekannt, man darf ihm schon etwas anvertrauen.“
„Wie fanden Sie es an der Brücke?“
„Es standen viele Menschen da, die auf die Rückkehr unseres Bootes warteten. Zwei von ihnen sind mitgekommen.“
„Was wollen sie?“
„Sie wollen diese Demoiselle sehen, sie vermuten, daß es eine Anverwandte von ihnen sei.“
„Wie heißen sie?“ fragte das Mädchen.
„Sie nannten sich Mason, Vater und Sohn.“
„Sie sind es“, sagte sie. „Mein Name ist Annette Mason.“
„Wünschen Sie, sie zu sehen?“ fragte Sternau.
„Darf ich, mein Herr?“
„Ja. Wir werden uns einstweilen entfernen.“
„Die anderen mögen gehen, Sie aber bitte ich zu bleiben, Monsieur. Ich fürchte mich vor dem Vater!“
„Gut“, sagte Sternau zur Mutter Merveille. „Lassen Sie die beiden eintreten.“
Dieselbe entfernte sich mit dem Matrosen, und die beiden Masons traten ein.
Der Vater hatte ein wüstes, versoffenes Aussehen; es war gar nicht zu verkennen, daß er der Sünde und dem Verbrechen ohne Rettung verfallen sei. Der Sohn war eine kräftige, robuste Gestalt und ganz sicher ein ungeschlachter, gewalttätiger und gewissenloser Mensch, aber in seinem Auge glänzte doch etwas wie ein Freudenschimmer, als er seine Schwester erblickte. Der Vater eilte sofort auf sie zu.
„Endlich habe ich dich!“ rief er. „Heraus aus dem Bett und folge mir!“
„Ich bin krank, Vater“, entgegnete sie bittend.
„Krank?“ fragte er. „Du bist ja wach, du kannst ja sprechen. Heraus und fort mit dir!“
Da trat ihr Bruder zu ihr heran und fragte:
„Du bist wirklich in die Seine gesprungen, wie du uns drohtest, Annette?“
„Ja“, gestand sie leise.
„Welch eine Dummheit!“
„Dummheit?“ rief der Vater. „Nein, eine Schlechtigkeit war es! Sie wollte uns blamieren, sie wollte uns um das Geld bringen, das sie zu verdienen hat. Sie mag uns jetzt folgen, und daheim soll sie sehen, was ihrer wartet.“
„Du wirst ihr nichts tun“, versetzte der Sohn.
„Nichts? O nein, nichts, gar nichts!“ antwortete der Vater höhnisch.
„Nein, ich verbiete es dir!“
„Was hättest du mir zu befehlen! Sie soll gehorchen lernen!“
„Das wird sie, aber ohne daß du sie schlägst. Sie hat eine Dummheit begangen und wird sie bereuen.
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