434 Tage
meinen Nacken streifen. Das tut er immer, weil er weiß, wie sehr ich das mag. Und ironischerweise wird er es schaffen, dass ich mich besser fühle. So, als läge es tatsächlich an der Arbeit und nicht an den heimlichen Treffen mit meinem Liebhaber.
Wenn man es objektiv betrachtet, ist Tobias der bessere Mann. Er ist treu, zumindest soweit ich weiß, er ist ehrlich, er ist verlässlich, liebevoll, verständnisvoll und fürsorglich. Er scheut sich nicht vor Konflikten und steht schwierige Situationen mit mir durch. Mein Erfolg schüchtert ihn nicht ein, er unterstützt mich und ist immer für mich da. Aber er ist nicht abenteuerlich. Er ist nicht spannend und aufregend. Er ist nicht leidenschaftlich und spontan. Er liebt mehr mit dem Kopf als dem Körper.
Vielleicht würde ich mich nicht ganz so schuldig fühlen, wenn Julian ein Fremder wäre. Ein Mann, mit dem ich eben gerne schlafe. Wäre es nur Sex, könnte ich mir einreden, dass es nicht meine Schuld ist, dass Tobias so rational ist. Ich könnte mir sagen, dass ich eben Bedürfnisse habe, die Julian befriedigen kann und Tobias nicht. Bedürfnisse, die nichts zu bedeuten haben. Und vielleicht haben sie das auch nicht. Aber was, wenn doch? Und was könnten diese Nächte bedeuten? Warum schlafe ich mit jemandem, der mir nicht gut tut, jemandem, dem ich nicht wirklich traue?
Ich setze mich in ein Café und bestelle einen Espresso und ein Croissant. Und während ich dort sitze und versuche nicht daran zu denken, dass ich mich vor vielen Jahren in genau diesem Café zum ersten Mal mit Tobias getroffen habe, beobachte ich eine Ente, die in dem kleinen Brunnen gegen den Strom schwimmt. Bei ihr sieht das so einfach aus. So als wäre das kein bisschen anstrengend. Ich sollte es beenden. Diese Geschichte wird noch meine Ehe ruinieren. Tobias und ich funktionieren wie ein Uhrwerk. Wir kennen uns. Zumindest denkt Tobias das. Es muss enden. Mein Verstand weiß das. Ich kann ihn doch nicht immer wieder hintergehen. Irgendwann mache ich einen Fehler. Das ist nur eine Frage der Zeit. Ich verspreche mich oder verstricke mich in meinen haarsträubenden Lügen und dann werde ich es ihm beichten. Und das wird einen Teil in ihm zerstören. Und das hat er einfach nicht verdient. Aber wie kontrolliert man Verlangen? Wie schaltet man Begierde ab?
Ich habe Julian immer begehrt. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben aussehen würde, wenn er damals nicht in dieses Flugzeug gestiegen wäre. Wenn er sich für uns und nicht für die Karriere entschieden hätte. Vielleicht wären wir noch zusammen. Vielleicht hätten wir ein Haus und Kinder und eine Hypothek. Und vielleicht würde ich dann ihn mit einem anderen betrügen. Einem Mann, der mich versteht und mich in den Armen hält und mir die Geborgenheit schenkt, die Julian mir nicht geben könnte. Oder ich würde mich bei einer Freundin ausweinen, weil ich wüsste, dass er mich betrügt und ich nicht die Kraft hätte, ihn zu verlassen. Vielleicht hätten wir uns ohnehin getrennt. Vielleicht hätte einer von uns jemand anders getroffen. Oder wir beide. Ich hasse diese Fragen, auf die ich ja doch niemals eine Antwort haben werde.
Hätte ich mich vergangenen Mai doch einfach für ein anderes Hotel entschieden. Mein Leben wäre anders verlaufen. Es wäre so, wie es davor war. Zumindest vermute ich das. Ich wäre auch in Genf gewesen. Aber allein. Ich hätte einfach vier Tage gearbeitet und wäre dann zu meinem Mann geflogen.
Kapitel 2
Meine Füße sind bleierne Anker, die im viel zu weichen, gemusterten Hotelteppich versinken. Und während die Gänsehaut wie in Zeitlupe über meinen Körper kriecht, drückt sich der Schweiß aus jeder Pore. Ich spüre, wie er auf meiner Stirn glänzt. Und über der Oberlippe. Sonst ist da nichts. Der Klang von Stimmen und Absätzen, verschluckt. Ganz entfernt sind sie noch da, dumpf und unwirklich. So als wäre mein Kopf unter Wasser. Vor zehn Sekunden war ich noch ich. Jetzt ist es, als wäre ich in einem Stummfilm, der nicht ganz stumm ist, in einem Körper, den ich zwar wahrnehme, aber nicht wirklich spüre. Ich bin eine andere. Und diese andere spürt nur die winzigen Härchen an ihrem Nacken. Sie spürt den Schweiß auf ihrer Haut, wie ein fremdes Wesen, das sie fest umarmt. Doch diese andere bin ich.
Der schwere Duft von zu starken Vanillekerzen dröhnt in meinem Kopf. Ich bemerke Menschen, die an mir vorbeigehen, Hotel Poitiers, Pagen mit golden-glänzenden Gepäckwägen. Ihre Bewegungen
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