434 Tage
und hieve mich vorsichtig hoch. Meine Knie fühlen sich an, als gehörten sie einer 97-jährigen Frau. Mein Zahnfleisch brennt und die widerwärtige Komposition aus der Hotel-Zahnpasta und meinem halbverdauten Tintenfisch scheint sich ganz tief in meinen Geschmacksknospen verschanzt zu haben. Abartig.
Abartig . Ich bleibe stehen. Das ist mir nie aufgefallen. Aber wie kann es sein, dass mir das nie aufgefallen ist? Wenn Julian und ich geheiratet hätten, wäre mein Name Anja Bartig. A. Bartig. Um Gottes Willen. Was für ein Glück, dass er damals in den Flieger gestiegen ist.
Ich wühle in meinem Koffer auf der Suche nach irgendeinem Mittel, irgendeiner Droge, nach etwas, das es schafft, dass dieses Gefühl aufhört. Ich will etwas Betäubendes. Etwas Einschläferndes. Etwas, das mein Gehirn einfach lahmlegt. Doch da ist nichts. Zumindest nichts, was ich brauchen könnte. Also schlüpfe ich in einen Bademantel und verlasse mein Zimmer. Und während ich den kargen Korridor entlang schleiche, wünschte ich, ich hätte mich einfach auch für einen Sommersalat ohne Öl entschieden.
Als sich die Aufzugtüren langsam schließen, denke ich plötzlich an Kathi. Dieser Trip nach Genf ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Ich habe seit Jahren nicht an sie gedacht. Aber ich weiß, warum ich gerade jetzt an sie denke. An dem Abend, als sie mit Christoph rumgemacht hat, habe ich Julian kennengelernt und mein Leben hat sich geändert. Und alles, was ich davor kannte, war unwichtig. Alles, was ich davor zu wissen glaubte, war Blödsinn. Und weil ich versuche, nicht an ihn zu denken, hat sich mein Gehirn eben etwas anderes einfallen lassen, das mich letzten Endes wieder dorthin bringt, wo ich nicht hin will. Und das Schockierende ist, dass die Erinnerung an diesen Abend so gestochen scharf ist, als wäre es gestern gewesen. Ich weiß alles. Bis ins kleinste Detail.
Kapitel 6
„Man sieht sich.“ Er dreht sich um und geht in Richtung Tür. In einem Film würde genau jetzt melancholische Musik einsetzen und er würde in Zeitlupe im Flur verschwinden. Dann würde die Kamera in meine Richtung schwenken. Die Fassungslosigkeit in meinen Augen würde alles aussagen und die Zuschauer würden ihn hassen.
In Wirklichkeit bemerkt mich niemand. Alle um mich herum trinken und lachen und feiern. Niemand interessiert sich für irgendjemanden außer sich selbst. Und alle scheinen auf der Suche nach etwas zu sein, das die bodenlose Leere füllt, von der die meisten nicht einmal wissen, dass sie da ist. Sie sind zu voll mit Alkohol und Scheiße.
In einer guten Serie oder einem Film würde genau jetzt meine blendend aussehende beste Freundin mit perfekt sitzender Frisur und strahlend weißen Zähnen auf mich zukommen und etwas Weises und Aufbauendes sagen. Sie würde mir sagen, dass sie mich liebt. Und sie würde meinen vollen Namen benutzen, während sie das tut. Sie würde ihre schlanken Arme um mich schlingen und sagen Ich liebe dich Anja Kraus. Aber das hier ist keine Serie. Es ist die grausame Realität. Es ist mein Leben.
Außerdem würde es höchst albern klingen, wenn jemand das tatsächlich sagen würde. Diesen Ich liebe dich Anja Kraus -Scheiß, meine ich. Im Ernst. Vielleicht ist es tatsächlich die Sprache. Oder mein Name. Na jedenfalls kotzt mich mein Leben an. Manchmal wäre es schön, wenn wenigstens ein paar Szenen meines traurigen Daseins etwas filmreifer wären. Zumindest ab und zu. Aber nichts da. Schnöder Durchschnitt. Im echten Leben verwischt die Wimperntusche und brennt in den Augen. Und meine beste Freundin liegt im Nebenzimmer auf dem Fußboden und knutscht mit irgend so einem Kerl aus der Parallelklasse, dessen Namen ich vergessen habe.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre – was man mit 17 grundsätzlich nicht ist – dann würde ich mir eingestehen, dass Christoph mich seit Wochen wie Dreck behandelt. Ach, was red’ ich? Seit Wochen. Blödsinn. Seit jeher. Ich war so sehr damit beschäftigt, glücklich zu spielen, dass ich das vorsichtshalber nicht bemerkt habe.
Ich will ehrlich sein. Zumindest so weit mir das möglich ist, ohne das letzte Bisschen meiner Selbstachtung zu verlieren. Manchmal, ganz selten hat mein böser Dämon tatsächlich sein hässliches Haupt gehoben und mir ins Ohr geflüstert, dass Christoph einen feuchten Scheißdreck auf mich gibt. Und ich gebe es ungern zu, aber er hatte Recht. Mein Dämon meine ich.
Ich beiße die Zähne zusammen, weil ich es nicht einsehe, wegen jemandem
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