434 Tage
und seiner Freundin. ... Ja, das mache ich. ... Ich dich auch. ... Ja, bis später.“ Ich lege das Handy beiseite. „Entschuldigung.“
„Erzähl’ uns von Tobias.“ Das flackernde Kerzenlicht schimmert in seinen Augen. Er zeigt auf das Display. „Ich nehme an, das gerade war dein Mann?“
„Ja, war es.“
„Und wie lange seid ihr verheiratet?“, fragt Katja, ihre Hand noch immer fest auf seiner.
„Bald zehn Jahre.“
Es scheint so, als hätte ich es in den vergangenen zwölf Jahren verlernt, seine Blicke zu verstehen. Seine Augen sagen etwas, aber ich kann nicht sagen, was. Und dann holt er Luft und sagt, „Bis vor kurzem hätte ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen können, so lange mit einem Menschen zusammen sein zu können, geschweige denn, es zu wollen.“
Diesen Satz aus seinem Mund zu hören trifft mich wie ein Fausthieb in der Magengrube. Als ich einatme, schmerzen meine Lungen. Mein Brustkorb scheint plötzlich unbeschreiblich eng. Die reale Welt zieht sich langsam zurück. Wie eine Welle, die erst auf den Strand donnert und dann ganz langsam im Sand versickert. Die reale Welt ist noch da, sie umgibt mich, doch vor zwei Sekunden hat sie sich anders angefühlt. Irgendwie näher. „Ich verstehe genau, was du meinst“, sage ich nach einer Weile. Und ich bin erstaunt über den festen Ausdruck in meiner Stimme. „Wenn man jemanden findet, den man wirklich liebt, wird einem erst klar, dass alles, was davor war, nichts bedeutet hat.“
Ich versuche in Julians Blick zu lesen. Ich versuche zu verstehen, was seine Augen sagen. Früher habe ich das. Früher haben sie zu mir gesprochen. Doch jetzt ist da nichts. Jetzt sind sie einfach nur tiefschwarz und wunderschön.
„Einmal Tintenfisch-Carpaccio für die Dame...“ Der Kellner stellt einen Teller vor mir ab. „... und einmal für den Herren.“ Dann greift er auf den Servierwagen hinter sich. „Und den Sommersalat ohne Öl für Sie, Madame.“ Katja lächelt ihr mädchenhaftes Lächeln. Ich betrachte den Salat. Kein Wunder, dass sie so aussieht. Vermutlich isst sie nur Obst und Gemüse. Und Blattsalate ohne Öl. Dann verschwindet der Kellner und wir fangen schweigend an zu essen.
Kapitel 5
Es fühlt sich so an, als hätte sich der Tintenfisch in meinem Magen wieder zusammengesetzt und würde gerade wild mit seinen Tentakeln um sich werfen. Ich liege auf dem Bett und versuche zu schlafen. Und immer wieder, wenn ich spüre, dass meine Lider endlich schwerer werden, rastet entweder der Tintenfisch in meinem Magen aus oder ich sehe Julians Gesicht vor mir. Und ich weiß nicht, was schlimmer ist.
…
Ich renne in mein blitzblank geputztes Marmor-Badezimmer, reiße den Klodeckel hoch und übergebe mich. Jeder meiner Muskeln ist angespannt und es fühlt sich so an, als würden meine Augen jeden Moment aus ihren Höhlen poppen. Meine aufgestützten Arme zittern unter meinem Gewicht, während mir am gesamten Körper der Schweiß ausbricht. Und obwohl ich nur verschwommen sehe, erkenne ich den Tintenfisch klar und deutlich. Dieses verschwommene, pulsierende Bild scheint meinem Magen den erneuten Befehl zum Zusammenziehen zu geben und wie ein guter Soldat befolgt er ihn.
Eine halbe Stunde später schleppe ich mich zurück ins Bett. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich jemals so elend gefühlt habe. Ich weiß, dass man das immer sagt, wenn es einem schlecht geht, aber dieses Mal stimmt es. Und auch, wenn dieses Hotel einem das Gefühl der Geborgenheit vorgaukelt, fühle ich mich im Augenblick völlig fremd und unwohl. Ich drehe mich schwerfällig zur Seite und schaue auf die Digitaluhr, die auf dem Nachttisch steht. Halb vier. Einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, Tobias anzurufen, aber ich bringe es nicht fertig. Tränen laufen über meine Wangen. Und sie scheinen aus einem Teil in mir zu kommen, der bis vor ein paar Stunden so tief in mir verborgen war, dass ich dachte, er existiere gar nicht. So wie ein verschrumpelter Essensrest, den man erst beim Auszug unter einem Küchenschrank hervorkramt.
Ich will diese Gedanken nicht. Es hatte schließlich einen guten Grund, weswegen ich diesen verkümmerten Rest so gut verdrängt habe. Um mich abzulenken, versuche ich mich daran zu erinnern, ob ich Tabletten gegen Übelkeit eingepackt habe, weiß es aber nicht mehr. Also setze ich mich ganz langsam auf. In meinem Hals ist noch immer diese Säure. Meine nackten Fußsohlen spüren den sanften Teppichboden. Ich seufze
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