434 Tage
Rolle?“, frage ich und schlucke.
Völlig unvermittelt schleudert er mir die Tagebücher entgegen. „Was das für eine Rolle spielt?“, brüllt er und kommt auf mich zu. Ich weiche zurück, doch er packt mich am Arm. „Ich will es wissen.“ Er schüttelt mich. Die Kraft, die in ihm steckt, irritiert mich. Tobias ist sanft. Er ist ruhig und gefasst. „Gehst du zu ihm?“ Seine Stimme dröhnt in meinen Ohren. Sie durchdringt jede Zelle. Auf seinem fahlen Gesicht liegt der Blick eines Fremden. Und ich habe diesen Blick schon einmal gesehen, kann mich aber nicht mehr daran erinnern, wann. Meine Finger kribbeln. An der Stelle, an der Tobias meinem Arm das Blut abschnürt, spüre ich meinen rasenden Puls. Mein Arm wird kalt und das Kribbeln wandert von meiner Hand über den Ellenbogen zu meinem Oberarm bis zu Tobias Hand. Er ist mir fremd. Ich habe ihn nie als bedrohlich empfunden. Nicht ein einziges Mal. Ich hatte nie Angst vor ihm. Er war immer sanft und ruhig. Rational und kontrolliert.
„Ich denke nicht, dass...“
„Willst du zu ihm?“ Seine Stimme fließt durch meinen gesamten Körper. Sie vibriert in meinen Knochen.
„Lass mich los...“ Ich versuche, ruhig zu klingen, doch meine Stimme zittert und überschlägt sich.
„Und was wenn nicht? Hm?“, fragt er. Mein Arm ist einschlafen mit dem anderen drücke ich ihn weg. Zumindest versuche ich es. „Du wolltest doch eine Reaktion.“ Ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht. Und diese ruhige Stimmlage ist fast noch bedrohlicher und angsteinflößender als das Brüllen. „Du wolltest Wut und Eifersucht...“ Er stellt sich vor mich und schiebt mich rückwärts. Seine Haare sind schweißnass. Der Alkohol vermischt sich mit der schwülen Luft. „Hier, ist dir das eifersüchtig genug?“
„Hör’ auf... Bitte, Tobias, hör’ auf...“
„Du bist meine Frau, Anja, meine Frau. “ Tobias Gesicht ist nicht einmal zehn Zentimeter von meinem entfernt. Ich spüre, wie sich Schweiß durch meine Poren drückt. Ich bemerke nicht, dass ich weine. Ich weiß nur, dass ich es tue, weil ich nicht scharf sehen kann. „Ich weiß, was du gerade denkst. Warum ist er hier? Er sollte doch in London sein.. . “ Er imitiert meine Stimme. „Das denkst du doch, oder?“ Seine betrunkenen Augen versuchen, mich anzusehen, doch sie driften immer wieder weg. „Ich wusste, dass du feige bist. Ich kenne dich, Anja, ich wusste, dass du es ausnutzen wirst, dass ich nicht da bin. Ich wusste, dass du kommen und deine Sachen holen wirst.“ Er macht ein abschätziges Geräusch und schüttelt den Kopf. „Dachtest du ehrlich, dass ich mich so einfach abspeisen lasse?“
„Ich wollte dich nicht ab-...“
„Dachtest du, ich würde einfach dabei zusehen, wie du zu ihm gehst?“
„Ich gehe nicht zu ihm“, sage ich zitternd.
„Lügnerin.“
Mein Arm ist taub und hängt leblos an meiner Seite. „Es geht nicht um Julian, es geht um uns“, sage ich vorsichtig.
„Eigenartig...“ Der beißende Geruch von Bourbon steigt mir in die Nase. „Und warum hat er dir dann seine Adresse geschickt?“ Tobias hält mein Handy hoch.
„Was?“ Ich sehe mich noch, wie ich in Richtung Arbeitszimmer gehe, um den Koffer zu holen und wie ich es unterwegs auf der Anrichte ablege. Ich wollte nur kurz meine Tagebücher holen. In diesen Tagebüchern steht alles, was wichtig ist, alles, was ich gedacht habe. Sie sind ein Dokument meines Lebens. Ich wollte sie nur schnell holen und dann verschwinden. Ich sollte jetzt schon längst wieder im Auto sitzen.
„Ich verstehe wirklich nicht, was du an ihm findest“, sagt Tobias kalt. „Er sieht ziemlich durchschnittlich aus.“
„Tobias, gib mir das Handy.“
„Das geht nicht. Ich brauche doch seine Adresse.“
Ich versuche zu atmen, doch es geht nur in die eine Richtung. Einatmen funktioniert, ausatmen nicht. In mir tut alles weh. Es brennt und krampft. Meine Muskeln ziehen sich zusammen. Mir wird übel. Es fühlt sich an, als würden all meine Zellen auf einmal streben.
„Was ist es?“ Er hält mich mit seiner freien Hand am Kinn fest. „Was findest du an ihm?“
„Lass mich los...“, sage ich angespannt. „Tobias, bitte...“
„Was du an ihm findest, habe ich gefragt.“ Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Tobias stemmt sich gegen mich.
„Ich liebe ihn.“ Tränen laufen über mein Gesicht.
„Du liebst ihn... Du liebst ihn also... Und was war dann ich für dich?“, brüllt er. Einzelne Tropfen Spucke legen sich wie winzige
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