44 - Die Intrige von Antares
schon lange. Er versuchte erst gar nicht weiter, mich davon abzubringen. Unser Unternehmen würde im Schutz der Nacht stattfinden, und in der kurzen Zeit, die noch übrigblieb, nahm ich eine schnelle Mahlzeit zu mir. Nalgre der Ron stimmte leise eine Melodie an, andere fielen ein, und bald ertönte ein lebhafter Gesang. Ich hatte nicht den Eindruck, daß diese Raufbolde sangen, nur um sich für die Nacht Mut zu machen. Die meisten Kreger – nicht alle – singen leidenschaftlich gern und ergreifen jede Gelegenheit, um alte Lieblingslieder zu singen. Und so sangen wir neben anderen, auf ganz Paz verbreiteten Liedern unter anderem ›Die Jungfrau mit dem einsamen Schleier‹ und ›Zakrysts Prächtiges Kriegsroß‹. Ein lustiges Lied aus Tolindrin, das für einen Fremden eher ergreifend sein dürfte, da in ihm alle Wünsche wahr werden, ist ›Nath der Iarvin in den Wolken‹. Es erzählt die Geschichte von Nath dem Iarvin, der als einfacher Sohn eines Kerzenmachers nach Caneldrin ging, dem Land nördlich von Tolindrin, um dort sein Glück zu finden. Eines Tages fand er sich auf einem der Volgendrins wieder, die die Lüfte dieses Landes durchkreuzen. Er rief Tolaar den Mächtigen an, und der schickte die Winde, von denen die fliegende Insel den ganzen Weg bis ins südlich gelegene Tolindrin getrieben wurde. Das Lied endet mit der stürmischen Willkommensfeier, die man Nath dem Iarvin bereitet. Warum am Himmel über Tolindrin keine Volgendrins schweben, nun, das ist eine andere und wesentlich schmerzhaftere Geschichte, die in der Geographie des Landes begründet liegt.
Schließlich erhob sich Naghan Raerdu, und der Gesang war zu Ende. Ein paar seiner Männer verließen das Haus, um die Nachbarschaft zu überprüfen. Falls jemand Nalgre den Ron oder mich verfolgt hatte, war er auf jeden Fall wesentlich geschickter als die beiden Kerle in Amintin, um die sich Fweygo gekümmert hatte. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, von jemandem verfolgt worden zu sein, und Nalgre bestätigte, daß es ihm genauso gegangen war.
Man fand für mich noch einen Schlapphut mitsamt kurzem Umhang, und so brach ich in der Verkleidung eines draufgängerischen Schurken aus den Gräben mit dieser Horde von Halsabschneidern auf. Der Umhang verbarg das neue Rapier mitsamt dem dazugehörigen Dolch; das Schwert, das ich dem von Palfrey bewußtlos geschlagenen Wachmann abgenommen hatte, war so festgeschnallt, daß ich es schnell zücken konnte.
Wir verzichteten auf den Schweber und stiegen vorsichtig den mit losem Geröll übersäten steilen Abhang hinunter. Gelegentlich durchstieß das Licht der Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln die Wolkendecke, doch im allgemeinen hüllte die Dunkelheit unsere schändlichen Aktivitäten ein. Die von Naghan angeführte Bande war mir in der vorigen Nacht bis zur Messinglilie gefolgt. Wir wußten, welchen Weg wir entlang der traurigen Etablissements einzuschlagen hatten und wo man die Abfallhaufen und den klebrigen Schlamm, der nie zu trocknen schien, umgehen mußte. Wieder raubte uns der Gestank den Atem, und die seltsamen Schreie, die zwischen den Gebäuden widerhallten, kündeten beredt und auf schreckliche Weise von den teuflischen Machenschaften, die dort stattfanden.
Wir blieben am vorletzten Hüttenblock stehen. Die Schenke war durch den dünnen, feuchten Nebel zu sehen. Eine Hündin trottete schwerfällig über die Straße bis zu einem Unrathaufen, in dem sie mit der Pfote scharrte. Wir umgingen sie vorsichtig, bis wir die Hinterseite der Messinglilie erreicht hatten. Vorn ertönten die gedämpften Geräusche einer ausgelassenen Zecherei.
»Da ist der Hintereingang in den Hof«, knurrte Naghan in mein Ohr.
»Und das da hinten ist Fonnells Schlupfwinkel«, flüsterte ich und zeigte auf das Gebäude, in dem der Fristle zu Tode gekommen war. »Nicht, daß er jetzt noch dafür Verwendung hätte.«
»Und wo stehen die verdammten Fässer?«
»Direkt neben dem Schlupfwinkel, wo der arme Lingurd stand. Von hier aus kann man sie nicht sehen. Doch da vorn ist die verflixte Falltür, durch die ich gerutscht bin wie Innereien durch den Fleischwolf.«
Naghan wollte losprusten, konnte seine Heiterkeit aber noch rechtzeitig unterdrücken. Hier in Tolindrin benutzte man neben den Amphoren der südlichen Länder auch die Fässer der nördlichen Länder. Sowohl Fässer als auch Amphoren bereisten ganz Kregen. Das Küferhandwerk setzt eine peinliche Genauigkeit voraus – das gilt natürlich auch für das
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