44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens
unwillkürlich stockte ihr Fuß. Sie erkannte den Herzog und seine Tochter. Ein Zug der Freude und Genugtuung blitzte über ihr faltenreiches Gesicht, und ohne sich lange zu besinnen, lenkte sie ihre Schritte nach dem Haus. Dort angekommen, nahm sie eine demütige Haltung an, streckte die Hand aus und sagte zu Flora:
„Eine kleine Gabe für eine arme Zingarita, meine schöne, schlanke Dame!“
Flora griff in die Tasche und gab ihr ein Fünffrankenstück.
„Hier, Alte“, sagte sie. „Du erhältst es gern!“
Ihre Miene zeigte nicht im geringsten, daß sie die Zigeunerin kenne, ihr Vater aber hatte sich mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt und gab sich alle Mühe, gleichgültig zu erscheinen.
„Ich danke“, erwiderte Zarba, indem sie das Geld einsteckte. „Soll ich Ihnen vielleicht wahrsagen, schöne Dame?“
„Nein“, antwortete Flora mit einer abwehrenden Handbewegung.
„Nicht? Warum nicht? Ich bin Zarba, die Königin der Gitanos. Ich kann in die Vergangenheit sehen und in die Zukunft. Geben Sie mir immerhin Ihre Hand.“
„Schon gut, schon gut“, wehrte Flora ab. „Was vergangen ist, weiß ich, und was die Zukunft betrifft, gelüstet mich nicht, vorher zu erfahren!“
„Wie stolz!“ grinste die Zigeunerin. „Aber vielleicht beliebt es diesem Herrn, sich wahrsagen zu lassen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie die Hand des Kranken und hielt sie so fest, daß er sie ihr nicht wieder zu entziehen vermochte. Dann tat sie, als studiere sie die Linien dieser Hand, und sagte:
„Was sehe ich! Eine düstere Vergangenheit, ein Leben voll Untreue, Falschheit und Betrug, ein Leben –“
„Halt!“ sagte da Flora mit strenger Stimme. „Schweig', Alte! Deine Gaukeleien sind hier am unrechten Platz!“
„Gaukeleien?“ fragte Zarba höhnisch. „Was ich sage, das steht in diesen Linien geschrieben, ich sehe und lese es deutlich.“
„Lies, was du willst, aber wir wollen es nicht hören.“
„O, wenn die schöne Dame es hören wollte, so würde sie erstaunen darüber.“
„Über deine Zudringlichkeit und Frechheit, Alte!“ unterbrach sie Flora. „Ich kenne dich und weiß alles, was du beabsichtigst.“
„Sie wissen es? O sicherlich nicht!“ antwortete Zarba. „Ich las aus dieser Hand das Dasein eines Bruders, der nicht aufzufinden ist. Ja, holde Dame, die Freche, die Zudringliche sagt Ihnen, was für einen Vater Sie haben. Der Fluch folgt jedem seiner Schritte, denn er hat –“
„Genug!“ gebot Flora. „Bei mir findet deine Rachsucht keinen fruchtbaren Boden. Du willst mein Herz von dem des Vaters trennen, du willst durch dein Erscheinen ihn in Krankheit und Tod treiben, du verbirgst den Sohn, damit der Vater vor Sehnsucht nach ihm vergehe. Du bist ein Ungeheuer! Wer nicht vergeben kann, der ist ein Teufel. Packe dich fort, Alte! Du hast über niemanden zu richten, sondern du wirst selbst gerichtet werden!“
Flora stand nicht etwa mit zornblitzenden Augen vor der Zigeunerin, sondern sprach diese Worte mit jener gleichgültigen Kälte des Tones und jener stolzen Unbeweglichkeit der Mienen, die mehr verletzt, als der lauteste Zorn. Und als die Zigeunerin sich nicht entfernte, wandte sie sich nach der Tür, unter der infolge der heftigen Worte Zarbas der Diener erschienen war, und befahl diesem: „Fort mit dem Weib!“
Diese mit einer gebieterischen Handbewegung begleiteten Worte befolgte der Diener, indem er ohne Verzug die Alte beim Arm faßte und fortführte. Sie sträubte sich nicht dagegen, aber sie wandte sich noch einmal um und rief unter schadenfrohem Lachen:
„Und Ihr werdet ihn niemals finden, den Herzogssohn, nie, nie, niemals! Das ist meine Rache!“
Der Herzog lehnte schwach und angegriffen auf seinem Sitz. Das Zusammentreffen mit dem rachsüchtigen Weib hatte ihn tief erschüttert.
„O, sie ist eine Furie!“ seufzte er. „Wirst du klug getan haben, sie zu erzürnen, meine Tochter?“
Flora schüttelte ernst den Kopf und antwortete:
„Du hast diesem Weib gegenüber einen falschen Weg eingeschlagen, mein Vater. Kein Mensch hat das Recht, die Bestrafung einer Tat selbst in die Hand zu nehmen, dazu sind die Gesetze und die Richter da. Was sie dir vorzuwerfen hat, ist ja nicht mehr vor das Forum irgend einer Gerichtsbarkeit gehörig. Deine Richter sind dein Gewissen und die Mutter deines Sohnes.“
„Aber Zarba weiß, wo er sich befindet. Ich glaubte immer, sie durch ein freundliches Verhalten zu bestimmen, mir seinen Aufenthalt
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