45 - Waldröschen 04 - Verschollen
Tagesschimmer, welcher von oben hereinbrach, erkannte er die Leiter. Sie bestand ganz einfach in einem Baumstamm, in welchen man Einschnitte für Hände und Füße angebracht hatte. Sobald sie den Boden berührt hatte, stieg er hinauf.
Welch ein Glück, daß er sich von dem Gärtner getrennt hatte! Hätte er sich drüben bei diesem befunden, so wäre dies jetzt verraten gewesen.
Als er oben ankam, befand er sich in einem kahlen, von steinernen Mauern umgebenen Raum, in welchem mehr als zwanzig Gefangene angekettet lagen. Er sah ein, daß von seinem Loch aus es ganz unmöglich gewesen sein würde, durch diese Leute hindurch die Flucht unbemerkt zu bewerkstelligen. Zudem war die sehr starke Tür von außen mit festen Riegeln verwahrt, so daß es nicht gelingen konnte, sie von innen zu öffnen. Er dankte daher in seinen Gedanken Gott, daß er ihn mit Bernardo zusammengeführt hatte, aus dessen Gefängnis man sofort in das Freie gelangte.
Als das helle Licht des Tages auf ihn fiel, sah er erst, wie abscheulich ihn die Ratten zugerichtet hatten. Sein ganzer Körper war voller Bißwunden, und sein Hemd war so zerfetzt, daß es kaum mehr seine Blöße bedeckte.
Natürlich war er höchst begierig, zu erfahren, was der Sultan von ihm wollte. Sollte die Strafe etwa verschärft werden? Das war dem Grausamen sehr wohl zuzutrauen.
Er fand den Herrscher im Audienzsaal, aber nicht auf dem Thron sitzend, sondern er stand in einer Haltung da, als ob er bereit sei, den Saal zu verlassen. Die Frage, welche er sofort aussprach, erregte das Erstaunen des Gefangenen in nicht geringem Grad.
„Weißt du, wie viele Sprachen die Ungläubigen sprechen?“
„Es sind ihrer sehr viele“, antwortete Don Ferdinande.
„Verstehst du sie?“
„Die hauptsächlichsten davon kann ich sprechen und verstehen. Wir Christen haben einige Sprachen, welche alle Unterrichteten verstehen, obgleich sie nicht ihre Muttersprachen sind.“
„So höre, was ich dir sagen werde! Ich habe mir eine Sklavin gekauft, welche eine Ungläubige ist. Sie redet eine Sprache, welche hier niemand versteht! Ich werde dich jetzt zu ihr führen, um zu sehen, ob vielleicht du sie verstehen kannst. Gelingt es dir, mein Dolmetscher zu werden, so wird dich meine Gnade erleuchten, und du sollst nicht im Gefängnis sterben. Du wirst ihr Unterricht geben, daß sie die Sprache von Härrär lernt und mit mir reden kann. Aber du darfst ihr Angesicht nicht sehen und nichts Böses von mir sagen, sonst wirst du einen tausendfachen Tod erleiden.“
„Ich bin dein Knecht und werde dir gehorchen“, sagte der Graf.
Er verbeugte sich bei diesen Worten bis tief zur Erde herab, während allerlei Gedanken durch seine Seele gingen. Eine christliche Sklavin? War sie eine asiatische oder eine europäische Christin? Welche Sprache war die ihrige? Er sollte jetzt von dem Gärtner getrennt werden. War es da nicht klüger, zu tun, als ob er die Sprache der Sklavin nicht verstehe? Aber vielleicht gab es hier Gelegenheit, ein gutes Werk zu verrichten.
„Komm, folge mir!“ gebot der Sultan.
Er schritt ihm voran nach dem Schlafzimmer. Dieses war allerdings nicht ein Raum, wie man sich in Europa ein fürstliches Schlafzimmer denkt. Es war ein rechteckiges, langes und schmales Gelaß, welches nicht einmal eine Fensteröffnung hatte. Einige Kissen lagen da, über denen in einer Mauernische mehrere Lampen und ähnliche Sachen standen. An einem Pflock, der jetzt leer war, pflegten des Abends die abgelieferten Torschlüssel der Stadt zu hängen. Bei den Lampen hing auch ein Schraubenzieher, mit welchem die Fesseln der Gefangenen gelöst werden konnten. Das war das ganze Meublement des herrschaftlichen Boudoirs.
Der Sultan gebot dem Mexikaner, hier zu warten. Er zog die Riegel einer Tür zurück und trat in die Schlafkammer, um dafür zu sorgen, daß die Sklavin verhüllt sei, dann ließ er ihn eintreten, um hinter ihm die Tür sogleich wieder heranzuziehen.
Don Ferdinande überflog den Raum mit einem scharfen, forschenden Blick. Er ahnte sogleich, daß sich in den Kisten und Körben die Reichtümer des Herrschers befanden.
Die Sklavin ruhte auf dem Lager, sie hatte einen doppelten Schleier über das Gesicht gezogen, durch den sie sehen konnte, ohne daß ihre Züge zu erkennen waren. Beim Eintritt des Grafen wendete sie das Gesicht nach ihm, und dann richtete sie sich mit einer Bewegung empor, als ob sie über sein Erscheinen im höchsten Grad überrascht sei.
„Red mit ihr!“ gebot der
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