47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
jemals zu einer Art Einvernehmen kommen würden, längst vergangen war. Wenn es sie je gegeben hatte.
Oishi betrachtete den blutigen Klumpen aus Haaren und unnatürlichem Pflanzenbewuchs einen langen Augenblick irritiert, schien aber wenigstens ernsthaft darüber nachzudenken. Er sah auf, und Kai schüttelte warnend den Kopf. Wortlos wendete Oishi sein Pferd und ritt mit Yasuno zurück zu Fürst Asano.
Kai schaute resigniert zu, wie Oishi und Yasuno ihrem Herrn Bericht erstatteten und absichtlich ihre Stimmen dämpften, damit er ihre Worte nicht hören konnte. Doch er wusste bereits, was Yasuno sagen würde.
Und Oishi stellte sich – trotz seiner taktischen Fähigkeiten und pflichtbewussten Waffenübungen, trotz seiner Jagderfahrung und Sorge um die Sicherheit seines Herrn – auf Yasunos Seite. Er hatte Kais Worte aus reiner Bosheit ignoriert … Oder noch schlimmer: Vielleicht dürstete es den unerfahrenen Krieger nach Blut. »Es ist dort oben, mein Herr. Wir sollten ihm folgen, solange wir noch können.«
Narr!
Kais Kiefer verkrampften sich, als er gegen den Drang ankämpfte, den verbotenen Protest herauszuschreien.
Er hat so lange auf Messers Schneide gelebt
… Aber wenn er versuchte, diese Narren davor zu warnen, dass sie in ihr Verderben rannten – und ihren Herrn mit hineinführten –, würde Yasuno nur sein noch unerprobtes
katana
ziehen und ihn auf der Stelle töten, weil er es gewagt hatte, ihr Urteil infrage zu stellen.
Ein Samurai hatte das gesetzliche Recht, jeden einfachen Bürger niederzumetzeln, wenn er sich aus irgendeinem – oder auch aus gar keinem – Grund von ihm beleidigt fühlte. Kai wusste, wenn er nicht unter Fürst Asanos Schutz gestanden hätte, hätte längst einer der Samurai seines Herrn seine unerprobte Klinge an dem Mischlingszwingerjungen gewetzt – an seinen Gliedmaßen oder seinem Kopf.
Warum sollte er versuchen, sie aufzuhalten, und grundlos dafür sterben?
Fürst Asano würde nie ein Wort von dem hören, was er wirklich gesagt hatte … selbst wenn es sie alle das Leben kostete.
Fürst Asano nickte, trieb sein Pferd an und führte sie den Hang hinauf. Als die Männer vorbeiritten, bedachte sein Herr ihn mit einem dankbaren Lächeln. Kai verbeugte sich und verbarg seinen grimmigen Gesichtsausdruck. Er sah auf, als die anderen Reiter an ihm vorbeizogen. Keiner würdigte ihn auch nur eines Blickes.
Als sie fort waren, warf Kai den blutigen Klumpen Tierhaare angeekelt weg. Er zwang sich, ein Gebet für ihre Sicherheit zu sprechen, auch wenn er es nur um Fürst Asanos willen tat. Über die Samurai hätte er am liebsten einen Fluch gesprochen, weil sie ihren
daimyō
in einen schweren Unfall oder sogar den Tod führten.
Was sie seit Tagen verfolgten, war kein gewöhnliches Tier – nicht einmal etwas so Eindrucksvolles wie ein Bär oder Wölfe im Winter. Es war ein
kirin
. Kai hatte noch nie ein
kirin
gesehen – und er hatte bereits mehr seltsame Dinge gesehen, als sich irgendjemand auf Burg Ako auch nur vorstellen konnte.
Er hatte Zeichnungen von Menschen gesehen, die behaupteten, sie hätten ein
kirin
gesehen, was aber eindeutig nicht stimmte. Die Bilder waren gleichermaßen absurd wie grotesk. Aber er hatte auch die Wahrheit über die
kirin
erfahren, und zwar von Menschen, die sie tatsächlich gesehen hatten … Ihre Berichte waren ebenso ehrfurchtgebietend wie furchterregend, vor allem, weil sie wahr waren.
Obwohl sie riesig waren, hatte kaum ein Mensch oder ein anderes Wesen je ein
kirin
gesehen, auch nicht in den höchstgelegenen Tälern und entlegensten Bergen, in die sie sich gewöhnlich zurückzogen.
Kirin
waren scheue Einzelgänger, die sich ausschließlich von Pflanzen ernährten. Sie wanderten mit unendlicher Langmut die Bergpfade entlang und dachten über tiefgründige und unergründliche Themen nach, hatte man Kai erzählt. Oft bewegten sie sich so langsam, dass Schlingpflanzen und Zweige ihr Fell überwucherten, und sie für das menschliche Auge vollkommen unsichtbar wurden.
Aber die
kirin
hatten noch andere Fähigkeiten, um sich vor den Augen anderer zu verbergen, als nur mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Menschen waren nicht die einzigen Kreaturen auf dieser Welt, die die Arglist anderer Menschen misstrauisch beobachteten. Wie viele der Wesen der urtümlichen Wälder und wolkenverhangenen Berge führten
kirin
ein seltsames und schillerndes Leben, das sich zum Teil in dieser Welt und zum Teil in der Welt der Geister abspielte. Die Wesen, die die
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