47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
sie seinen Gesichtsausdruck hätte deuten können, oder dass er umgekehrt ihren hätte sehen können, folgte sie dem Pfad den Hügel hinab, so unbekümmert und sicher wie ein Reh.
1
Japan, 1701
Kai kauerte sich nieder und suchte im Gewirr der jungen Pflanzen, das die Ankunft eines neuen Frühlings verkündete, den Waldboden ab. Seine schwieligen Hände waren nach all den Jahren unter der sengenden Sonne so dunkel, dass sie von denen eines Bauern nicht zu unterscheiden waren. Er hob einen Klumpen Erde auf, die ein Tier beim Vorbeilaufen zwischen den moosbedeckten Steinen und den Blättern des vergangenen Winters aufgeworfen hatte.
Er atmete den Geruch der Erde ein und runzelte die Stirn.
Falsch
. Er starrte auf den enormen Fußabdruck ein paar Schritte weiter. Es war eine Spur, wie er sie nur einmal zuvor gesehen hatte, lange bevor sie mit dieser Jagd begonnen hatten … viel zu lange.
Das leise Knacken eines Zweiges schreckte ihn auf. Er blickte über seine Schulter zurück und suchte den Wald hinter sich ab. Dann stieß er einen erleichterten Seufzer aus.
Kein Monster
… nur ein Fuchs.
Eine schneeweiße Fähe
. Sie war stehengeblieben und sah ihn an. Sie hatte eine Pfote angehoben und erwiderte seinen Blick, als wären sie einander ebenbürtig und würden sich gegenseitig abschätzen. Doch ganz plötzlich drehte sie sich um und schoss davon, verschwand im grünen Licht des Waldes, als hätte jemand sie gerufen.
Eine weiße Füchsin
…
Aber dann hörte er das Geräusch von herannahenden Hufen und wusste, dass die anderen zu ihm aufgeschlossen hatten. Vielleicht hatte der Fuchs sie einfach kommen hören. Er sah den Weg hinunter, auf dem Fürst Asano und seine Jagdgesellschaft aus dem Morgennebel auftauchten. Die berittenen Krieger in voller Rüstung wirkten wie eine Vision aus der Vergangenheit. Es war, als wären sie durch einen Riss in der Zeit aus den Jahrhunderten des Krieges gekommen. Aus einer Zeit, in der ein Mann ein Samurai wurde, indem er seinen Mut in der Schlacht bewies, und nicht durch ein ererbtes Geburtsrecht.
Nach einem Jahrhundert des sogenannten Tokugawa-Friedens verblassten die Geschichten dieser Ära langsam zu Legenden. Das ständige Blutvergießen war endlosen Gesetzen und Vorschriften gewichen. Unter dem neuen Gesetz existierte ein starres Ständesystem, das den Adel des Kriegerstands ausschließlich nach dem Blut seiner Vorfahren definierte. Es sicherte ihnen einen permanenten Platz an der Spitze der Gesellschaft. Gesetze, die festlegten, was die anderen Stände waren, was sie nicht waren, und was sie sich nicht einmal erhoffen konnten, waren erlassen worden, um sie klein zu halten. Es waren unsichtbare Schranken, so unüberwindbar wie die Mauern der Burg Edo, in der der Tokugawa-Shogun residierte.
Die meisten der Männer, die den Hügel zu ihm hinaufritten, trugen selten ihre volle Rüstung – und wenn, dann nur, um Fähigkeiten zu trainieren, die sie vielleicht niemals benötigen würden. Aber das hier war keine gewöhnliche Jagd. Wenn sie ihre Beute endlich eingeholt hatten, würden sie ihre volle Rüstung und alle Waffen brauchen, die sie bei sich trugen.
Als die Reiter ihn entdeckt hatten, hielten sie ihre Pferde ein Stück den Hügel hinunter an. Kai merkte, dass er den Atem angehalten hatte. Er atmete aus, blieb auf den Knien sitzen und wartete darauf, dass Fürst Asano ihn bemerkte.
Er konnte Fürst Asano sehr leicht an dem Wappen auf seinem verzierten Helm erkennen. Die anderen erkannte er aus dieser Entfernung eher instinktiv als an besonderen Merkmalen. Es war schwer zu glauben, dass er fast zwanzig Jahre unter diesen Männern gelebt hatte. Doch als er die Jäger entdeckt hatte und sie ihn, hatte er sich für einen winzigen Moment wieder in den vollkommen verängstigten Jungen verwandelt, der er gewesen war, als sie ihn vor so langer Zeit aufgelesen hatten.
Nun war er Fürst Asanos oberster Spurenleser, kein
hinin
mehr, der die Hundezwinger sauber machte. Aber eigentlich hatte sich sonst nichts von Bedeutung verändert. Die Veränderungen waren so gering, dass es Kai noch immer möglich war, zu vergessen, dass sich sein Leben überhaupt verändert hatte.
Sein dunkelbraunes Haar dunkler geworden, sodass er nun als ein Reinblütiger durchgehen konnte. Und er benutzte dasselbe Pfefferminzöl, das die Samurai verwendeten, damit ihr Haarknoten ordentlich aussah, um seine widerspenstigen Locken zu glätten. Sie rochen alle – glücklicherweise – so sehr nach
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