5 1/2 Wochen
geschlossenen Augen bleibe ich noch ein paar Minuten in meiner Traumwelt. Nach einer Weile komme ich wieder zu mir und bin bereit, die nächste Etappe anzugehen. Ich öffne meine Augen, mein Blick ist zur Decke gerichtet. Oh Schreck! Was sehe ich denn da genau über mir? Ich traue meinen Sinnen nicht: Da oben ist doch tatsächlich ein „Fenster“ in der Zimmerdecke. Das ist mindestens einen Quadratmeter groß. Moment mal: das heißt doch, wenn auf der 1. Etage Leute sind, diese mich die ganze Zeit beobachten können, wenn sie wollen. Nicht, dass ich was zu verbergen hätte, aber so was weiß ich lieber vorher. Keine Ahnung, was ich alles so mache, wenn ich mich total alleine wäge?! Mir bleibt nur zu hoffen, dass ich mich die Nacht über benommen habe und nicht zum neuen Pilger-Bar-Thema geworden bin. Vielleicht war mein Schlaf ja auch deshalb so extrem unruhig. Es ist erstaunlich: Da habe ich einen zirka 50 Quadratmeter großen Raum zur alleinigen Verfügung und bette mich genau unter diesem Spionage-Fenster. Maldita sea (so ein Mist)!
„Nicht ärgern, Birgit!“ rufe ich mich zur Ordnung, „Sachen packen und loslaufen.“ Das Frühstück lasse ich mal ausfallen. Irgendwie habe ich keine Lust dazu. Hm, was ist denn da los? Kein Café con leche, kein Croissant? Das ist ja seltsam. Ich frage nochmal bei mir selber nach - es bleibt dabei: Keine Lust. Nun denn, es wird schon seinen Grund haben. Vielleicht müsste ich ja zu lange auf einen freien Tisch warten, wer weiß!? Mein Bauch weiß wieder mal mehr als mein Kopf. Dann bin ich jetzt eben ausnahmsweise „unvernünftig“. Der Camino ruft heute Morgen aber auch besonders laut nach mir. Kurze Zeit später verlassen wir Hontanas und gehen einen schmalen, nicht asphaltierten Pfad Richtung Castrojeriz. Mein Perro-Kumpel und ich fühlen uns topfit und genießen die Landschaft. Wir sind nicht alleine in dieser schönen Gegend unterwegs. Es mag nicht zuletzt daran liegen, dass ich eine gute Stunde früher auf dem Weg bin als sonst. Wie schon erwähnt, ziehen es die meisten Wallfahrer vor, sehr früh am Morgen loszugehen.
Bis Castrojeriz sind es knappe zehn Kilometer. Das ist doch ein Klacks, die hüpfe ich doch auf einem Bein ab! Wir sind voller Energie und Vorfreude auf das historische und denkmalgeschützte Dorf mit seinen knapp 1000 Einwohnern. Die ersten vier Kilometer schlängelt sich ein schmaler Pfad weit oberhalb der Landstraße an einem Hang durch Wiesen und Felder. Immer wieder begleiten uns einige bunte Schmetterlinge ein Stückchen. Die Vögel fliegen gut gelaunt auf und ab, landen auf dem Weg, hüpfen auf die Wiese und suchen nach Futter. Hontanas ist dort unten auch noch zu sehen. Das alles zusammen sieht aus, wie gemalt - wie aus einer anderen Zeit. Dieses Fleckchen Erde ist wirklich märchenhaft. Ich fühle mich fast wie Schneewittchen, das in den sieben Bergen unterwegs ist. Hätte ich nicht den schweren Rucksack auf dem Rücken, würde ich fröhlich hüpfen. Das Bild, das sich mir bietet, würde jedes Bilderbuch bereichern.
Die nächsten sechs Kilometer bis zum Ort führt der Jakobsweg über die wenig befahrene Landstraße, die ich bisher von oben gesehen habe. Ich nehme Ruddi an die Leine, denn wenn ein Auto kommt, dann ist es sehr schnell unterwegs. Gegen elf Uhr passiere ich das halb verfallene Kloster San Antón.
Einige Pilger sitzen auf einer Treppe in der Sonne und machen ein kleines Picknick. Oder sind das die sieben Zwerge? Sie sind jedenfalls sehr ausgelassen, ich höre sie schon von weitem lachen und als sie mich entdecken, winken sie mir einladend zu. Na, da darf ich wieder gespannt sein, auf welche Menschen ich treffe. Zipfelmützen haben sie jedenfalls keine an! Von Neugierde getrieben wird mein Schritt automatisch ein wenig schneller. Diese kleine Gruppe stellt einen großen Teil der Welt dar: Männer und Frauen aus Brasilien, England, USA, Japan, Schweden und Italien sind hier versammelt. Ich geselle mich als Deutsche zu ihnen und lasse mich auf die quietschfidele Stimmung ein.
Sie haben sich alle erst auf dem Camino „gefunden“, sind schon seit einer Weile gemeinsam unterwegs und wirklich „bunte Vögel“. Sie sind so ganz anders, als die Pilger, die ich bisher kennengelernt habe: Sehr laut, sehr derb, sehr albern, obszön - eben ausgeflippt - und dazu musikalisch. Sie singen temperamentvolle Lieder und es würde mich nicht wundern, wenn sie anfingen, den Regentanz zu performen. Es fühlt sich an, wie auf einer Fete zu
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