5 1/2 Wochen
lange zu kennen. Wir kommen kurz ins Gespräch. Sie sind zur gleichen Zeit wie ich in Saint Jean Pied de Port losgegangen. Sie heißen Achim, Oliver und Sabrina. Sie ist in kurzen Hosen unterwegs. Wow, hier oben ist Winter. Die meisten Pilger haben sich am Rolandsbrunnen noch eine zusätzliche Jacke angezogen. Sabrina denkt gar nicht daran. Diese kleine Gruppe strahlt von innen so viel menschliche Wärme aus. Irgendwie fühle ich mich zu ihnen hingezogen. Es fällt mir richtig schwer, ohne sie weiterzugehen. Ein Stück weiter gibt es einen Rastplatz für Pferde und ihre Begleiter. Hier sehen wir noch mal die Reiter mit ihrem Hund. Diesmal bleibt er bei ihnen. Am Brunnen hat ihn bestimmt nur die Fleischwurst gereizt, fällt mir im Nachhinein ein.
Wenn man oben auf dem Berg angekommen ist, darf oder muss man auch wieder runter laufen. Für Hermann und mich steht fest, dass wir den enorm steilen, aber deutlich kürzeren Abstieg wählen. Wir wollen nur noch am Etappenziel ankommen, und zwar schnell. Hermann hat große Probleme mit seinem Rucksack. Der drückt ihm schmerzhaft auf die Schultern. Ich sehe, dass er die Riemen falsch eingestellt hat. Ich weiß, dass das nicht sein muss und mache ihn darauf aufmerksam. In diesem Moment hat er jedoch keine Nerven, mit den Gurten zu spielen. Ich spüre meinen Rucksack nicht auf den Schultern, weil er nicht aufliegt. Ich trage ihn auf der Hüfte und merke natürlich das Gewicht, aber er verursacht keinerlei Druckschmerz. Mein Begleiter hingegen muss immer wieder kräftig und ruckartig die Schultern hochreißen, damit das Gepäck auf seinem Rücken eine andere Position einnimmt. Oft muss er vor Schmerzen stehen bleiben. Hermann sagt mir, ich solle einfach weitergehen, keine Rücksicht auf ihn nehmen. Was denkt der denn von mir? Das geht ja gar nicht! Natürlich gehen wir zusammen bis nach Roncesvalles.
Den Berg zu erklimmen war schwer - aber dieser Abstieg ist der Oberhammer. Ich glaube, in Deutschland wäre dieser „Weg“ für die Öffentlichkeit gesperrt. Es scheint ein Bachlauf zu sein: spitze, durch die Nässe glitschig gewordene, Felsbrocken, dicke Wurzeln und die gleiche Pampe wie eben auch, befinden sich in Mengen auf diesem Pfad. Ich benutze immer wieder das Wort steil, aber das ist an dieser Stelle das falsche Wort. Ohne Wanderstöcke könnte man diesen Abstieg nicht machen. Menschen mit Höhenangst wären auch fehl am Platz. Mit vielen kurzen Pausen kommen wir am Abend in Roncesvalles an. Wie wir aussehen ist unbeschreiblich. So dreckig und fertig war ich in meinem Leben noch nie. Hoffentlich lassen die Herbergs- oder Hotelbesitzer uns überhaupt rein.
Gleicher Tag (insgesamt 24,6 km gelaufen)
Roncesvalles (50 Einwohner), 960 m üdM, Navarreser Pyrenäen
Hotel, Doppelzimmer, 50 Euro inklusive Frühstück
Der erste Tisch mit zwei Stühlen, an dem wir vorbeikommen, gehört uns. Hermann lässt sich einfach mit dem Rucksack auf dem Rücken in eine Sitzgelegenheit fallen und ist unfähig, sich auch nur noch einen Zentimeter zu bewegen. Ich stelle mein Gepäck ab, rupfe Ruddi’s Reisetasche raus, in die er sofort dankbar rein hüpft und setze mich vorsichtig hin. Wie viele Muskeln mag wohl ein menschlicher Körper haben? Es müssen sehr, sehr viele sein - ich spüre sie alle, einige zum ersten Mal. Nett, euch kennen zu lernen. Aber können wir das nicht, bitte schön, mit etwas weniger Schmerzen machen?
Ich brauche dringend einen Kaffee und kündige Hermann an, dass ich uns diesen jetzt besorge. Torkelnd vor Schmerzen erreiche ich die Hotelbar - man hat mich tatsächlich rein gelassen. Ich höre mich einen Kaffee und ein Bier bestellen. Wieso Bier? Wie komme ich denn auf die Idee? Hat Hermann mir da einen Gedanken gesendet. Von Bier war doch gar nicht die Rede! Da diese Bestellung völlig unbewusst erfolgte, korrigier ich mich auch nicht. „Das wird schon für irgendwas gut sein.“ Als ich ihm das kühle Getränk hinstelle, guckt er mich an, als wäre ich das Christkind. Er säuselt: „Woher wusstest Du, dass ich jetzt genau das brauche?“ Na, den Mann habe ich überglücklich gemacht - freut mich. Wieder einmal habe ich die Erfahrung gemacht, wie wichtig oder schön es ist, auf seine innere Stimme zu hören, auch wenn es manchmal unlogisch erscheint. Im Gegenzug kommt von Hermann prompt für heute Abend eine Einladung zum Essen.
Nachdem wir uns für den Moment gestärkt haben, gehe ich nochmal rein, um das Hotelzimmer zu buchen. Das Einzelzimmer kostet 50
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