5 1/2 Wochen
Plätze an meinem Tisch an.
Ganz ungewöhnliche Situation: Ich habe gar nicht das Bedürfnis großartig zu reden, sondern das seltene und eigenartige Gefühl, das in diesem Moment „Schweigen Gold ist“. Friedlich und gelassen schweigen, kann man nur mit sehr engen Vertrauten. Ich sehe diese beiden aber zum ersten Mal, und trotzdem fühle ich mich sauwohl in dieser ungewohnten Stille. Ich habe das angenehme Gefühl, dass um uns herum gar nichts mehr ist. Sie sehen sehr sympathisch aus, haben leuchtende Augen, freundliche Stimmen. Sie sind sehr gepflegt und gut gekleidet. Sie strahlen Harmonie, Freude und Frieden aus. Aber auch sie fragen mich gar nichts. Sie sehen mich einige Minuten nur an, schauen gedankenverloren auf Ruddi und auf meinen Rucksack, der hinter ihm steht. Sie müssen in den Schweigeminuten meine Gedanken und Gefühle telepathisch empfangen haben. Ohne große Umschweife, leise und ganz klar, fangen sie an zu erzählen: „Wir sind vor drei Jahren ebenfalls den Jakobsweg komplett durchgelaufen. Wir waren damals, hier in León, genau wie Sie, fix und fertig und wussten gar nicht mehr, warum wir uns das alles antun. Wir überlegten ernsthaft, den Weg abzubrechen. Der viele Verkehr hatte unser Gehirn vernebelt. Zum Glück haben wir es nicht getan. Wir versprechen Ihnen, wenn Sie jetzt durchhalten, werden Sie tausendfach entschädigt. Der Weg hat Ihnen noch so viel zu bieten. Es wird auch wieder leichter, wenn Sie durch dieses Großstadt-Getümmel durch sind. Sie erwarten noch einzigartige Landschaften und mit Sicherheit großartige zwischenmenschliche Erfahrungen. Wir wissen, dass Sie es sich nie verzeihen würden, wenn Sie heute, nach so vielen gelaufenen Kilometern und den unterschiedlichsten Erlebnissen, einfach aufgeben würden.“
Mit Tränen in den Augen schau ich sie an: „Ich kann grad nicht mehr!“ Sie lächeln, stehen vom Tisch auf und verabschieden sich mit den Worten: „Hinter uns liegen drei wunderschöne Urlaubstage hier in León. Unser Flieger geht gleich, wir müssen los. Wir denken an Sie und Ihren kleinen treuen Freund und schicken Ihnen jeden Tag ganz viel positive Energie. Buen camino!“ Was war das denn? Ich schaue ihnen hinterher und mir ist schlagartig klar, dass ich niemals den Camino einfach verlassen werde. Diese Leute hat mir der Himmel geschickt. Sie haben mir wieder Mut gemacht. Wie einfühlsam muss ein Mensch sein, einem völlig Fremden so wirkungsvolle Worte zu sagen.
Nur wenige Minuten später verlasse auch ich das Café mit frischem Mut. Auf einmal sehe ich die Wegweiser wieder und verliere sie auch nicht mehr aus den Augen. Und noch etwas springt mich förmlich an: Eine Boutique für Hunde! Sofort erinnere ich mich an mein fehlgeschlagenes Unternehmen, in Pamplona für Ruddi ein Regencape zu kaufen. Möglicherweise klappt das hier und jetzt, so völlig aus dem Nichts heraus.
Ruddi wird mit mehreren Leckerchen und Streicheleinheiten begrüßt, als wir den Laden betreten - ich nicht. Mir sagt die Señorita lediglich, aber herzlich „Hola“. Mein Hund ahnt schon, was da auf ihn zukommt und zieht den Schwanz ein. Er hat nicht viel Zeit, Frust aufzubauen, denn die nette Frau hat sofort einen Regenmantel für meinen Gefährten griffbereit. Sie fackelt nicht lange, schmeißt sich ihm vor die Füße und innerhalb von Sekunden wird aus meinem kleinen schwarzen Vierbeiner ein knallrotes Feuerwehrauto mit Startschwierigkeiten. Das Modell passt zwar wie angegossen, aber Perrito ist wieder in eine plötzlich auftretende Starre verfallen. Die Verkäuferin versteht das gar nicht und ist entsetzt. Ich glaube, sie hat die Befürchtung ihren tierischen Kunden für immer geschädigt zu haben. Ich befreie ihn von dem Ding und pack es - nach dem Bezahlen und beruhigenden Worten in Richtung der Señorita - ganz tief in meinen Rucksack. Bin mal gespannt, wann und ob überhaupt dieses Accessoire zum Einsatz kommt.
Der Weg aus der Stadt will kein Ende nehmen. Er ist so lang, so steil nach oben, so verkehrsreich, die Bordsteine sind so hoch, dass kleine Kinder eine Leiter brauchen. Und es gibt viele Querstraßen, also auch viele Bordsteinkanten. Und es ist heiß, unglaublich heiß. Immer wieder rufe ich mir die Begegnung mit dem Ehepaar ins Gedächtnis. „Halt durch - es lohnt sich! Auch das geht vorüber!“
Das untrügliche Zeichen dafür, dass León endgültig hinter mir Hegt, sind die Bahngleise, die es zu überqueren gilt. Und genau da bin ich jetzt angekommen. Die allerletzte
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