5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
passte. Und noch etwas fiel mir auf. Noah hatte in seinem zweiten Leben den Namen Adam erhalten und ich trug den meiner Großmutter. Eve.
»Ist das ein Zufall?«
Er lächelte und beugte sich zu mir hinab. »Ich glaube nicht an Zufälle«, wisperte er dicht vor meinem Gesicht. In diesem Moment stimmte ich ihm aus ganzem Herzen zu. Es gab keine Zufälle. Nur Schicksal. Und unser Schicksal war es gewesen, trotz aller Umstände und Widrigkeiten zueinanderzufinden.
Selbst über den Tod hinaus.
1
Paris, 26. August 1775
Der Gestank von Unrat und verfaultem Wasser lag schwer wie ein feuchter Teppich über den Straßen des Uferbezirks. Es bedurfte eines unempfindlichen Geruchssinns, wenn man beabsichtigte, sich länger als einen Atemzug lang in der Nähe des Flusses aufzuhalten. Evrèl störte sich weder an Dreck noch an üblen Gerüchen. Er hatte sein gesamtes Leben in der Gosse verbracht, und die meisten Wohngegenden waren nicht halb so ansehnlich wie diese gewesen. Nicht, dass ihm keine andere Wahl geblieben wäre, doch er bevorzugte die Freiheit und Unabhängigkeit, die ihm die Straße bot. Eine Stadt wie Paris interessierte sich wenig für den Bodensatz ihrer Gesellschaft, was wiederum den Vorteil mit sich brachte, dass ein Habenichts sich zwanglos in ihren Gassen bewegen konnte. Evrèl hatte sich bewusst für ein Leben abseits kultivierter Soirees, weiß gepuderter Perücken und seidener Kniehosen entschieden. Wenn man illegalen Geschäften nachging, war es von großem Nutzen, wenn man anonym und unerkannt in der Menge unterzutauchen vermochte, da nahm man ein wenig Gestank doch gern in Kauf.
Evrèl hob den Blick und beschattete seine Augen mit der Hand. Es war ein schwüler Tag im Spätsommer, was einem angenehmen Geruch nicht gerade förderlich war. Auf dem Quai Royal herrschte geschäftige Betriebsamkeit. Von weißen Rössern gezogene Kutschen – vornehmlich edle Gespanne, die sich nur der Adel leisten konnte – polterten über das Kopfsteinpflaster. Die meisten von ihnen steuerten die Brücken an, die auf die Binneninseln führten. Die Inseln übten von jeher einen besonderen Reiz auf die Menschen aus, denn die luxuriösen Stadtpaläste des Adels waren nicht nur eine Augenweide für all diejenigen, die den Prunk und die vornehmen Kutschen mit neidvollen Blicken bedachten, sondern auch Treffpunkt für all jene, die sich an den Anblick von Prachtbauten längst gewöhnt hatten. Eigentlich zählte die Umgebung des vierten Arrondissements nicht zu den Gegenden, in die es Evrèl häufig verschlug, doch er hatte heute noch einen Auftrag zu erfüllen, der ihn mitten unter die Aristokraten trieb. Evrèl rümpfte die Nase. Nach Scheiße stank es hier trotzdem, ob Adel oder nicht. Am Ende waren die Menschen doch alle gleich: Sie aßen, schliefen, und sie leiteten ihr Abwasser in den Fluss. Widerlich.
Er schlug die Ärmel seines Hemdes auf, denn die späte Nachmittagssonne brannte erbarmungslos auf ihn herab. Der grobe Leinenstoff klebte an seinem Körper, vor allem am Rücken schwitzte er stark. Der kleine Kirschbaum, der neben der Bank, auf der Evrèl saß, seine dürren Äste in den Himmel reckte, vermochte kaum Schatten zu spenden.
Evrèls Blick fiel auf die zahlreichen Narben auf seinen Unterarmen, die von einem entbehrungsreichen Leben auf der Straße zeugten, wo Auseinandersetzungen mit dem Mob an der Tagesordnung waren. Er stieß einen Laut des Missmuts aus. Wenn das Glück ihm hold war, gehörte dieses Leben vielleicht bald der Vergangenheit an. Dann würde er endlich damit aufhören können, wie ein Gammler durch die Straßen zu ziehen und sich in Anonymität zu verstecken. Heute Abend würde er den entscheidenden Schritt in ein neues Leben tun.
Evrèl spürte einen Luftzug hinter sich. Er wandte den Kopf und blickte einer vornehmen Dame hinterher, deren fliederfarbener, weit ausladender Rock im Takt ihrer Schritte wippte. Ihr Haar war zu einer opulenten Turmfrisur aufgesteckt, die Haut vornehm blass gepudert. Sie verströmte einen penetranten Geruch nach Parfum, der sich mit dem Gestank des Flusses vermischte und Evrèl eine Welle der Übelkeit bescherte. Er schnaubte. Nur ein einziges Mal hatte er den Duft einer Frau als angenehm empfunden, und selbst diese Erinnerung verblasste zunehmend. Er schüttelte den Gedanken ab. Es war besser so, denn Weichherzigkeit konnte schnell dazu führen, dass man als aufgedunsene Leiche im Abwasserkanal trieb. Die meisten seiner Artgenossen frönten bedenken- und
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