5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
gewissenlos ihren Gelüsten, doch Evrèl hatte sich derartigen Risiken nie aussetzen wollen, zumal er ohnehin seit Jahrzehnten keiner Frau mehr begegnet war, die es wert gewesen wäre, sich die Hose auszuziehen. Evrèl empfand überdies wenig Freude an seinem erbarmungswürdigen Leben. Das Einzige, das er zu empfinden imstande war, war der Schmerz seines voranschreitenden Verfalls. Der Gedanke daran brachte ihn unweigerlich darauf zurück, dass er seit Tagen keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Ein Blick auf die Taschenuhr, die er einem reichen Edelmann bei einer seiner letzten Mahlzeiten abgenommen hatte, verriet ihm, dass noch Zeit genug für eine Stärkung blieb.
Evrèl erhob sich ächzend von der Bank und streckte seine müden Glieder. Der Anblick der vornehmen Gesellschaft, die sich nach und nach auf der Île Saint-Louis einfand, um an der Soiree des Comte Donoit de Bornelle teilzunehmen, weckte den Hunger nach einem gepflegten Aristokraten in Evrèl, doch er verdrängte den Gedanken mit einem Schmunzeln. Es wäre klüger, vor Beginn der Festivität keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er tauchte in eine der zahlreichen schmalen Gassen der Stadt ein und hielt nach einem Ort Ausschau, an dem er ungestört seinem Hunger nachgeben konnte. Paris war ein Geflecht aus verwinkelten Straßen und schmalen Durchlässen, die nicht einmal eine Pferdebreite Platz boten, sodass es Evrèl nie schwergefallen war, einen abgeschiedenen Ort zu finden, der sich für das Unvermeidbare eignete.
In der Nähe der Bastille entdeckte er in einer Sackgasse, die von leer stehenden Häusern gesäumt wurde, einen Mann mittleren Alters, der in einem der Hauseingänge schlief. Er verströmte einen unangenehmen Geruch nach Wein, aber Evrèl ließ sich davon nicht beeindrucken. Vermutlich war der Mann ein Landstreicher, eine der vielen gescheiterten Existenzen, die aus der Provinz in die Großstadt gekommen waren, um hier das große Glück zu finden. Zumindest ließ seine abgetragene Kleidung darauf schließen, dass er weit abseits von Adel und Kleinbürgertum sein Dasein fristete. Vermutlich tat Evrèl ihm einen Gefallen, wenn er sein Leben beendete.
Er packte den Mann am Revers seines abgewetzten Mantels und hob den Körper ein wenig an. Er gab ein Grunzen von sich, wachte jedoch nicht auf. Der Mann war sturzbetrunken und machte es Evrèl somit leicht, ihn für seine Zwecke zu missbrauchen. Beinahe bedauerte er, dass der Mann sich nicht wehren würde.
Evrèl spürte, wie seine Gestalt sich veränderte, wie sein Blick sich schärfte, seine Muskeln anschwollen und die beiden messerscharfen Krallen aus seinen Handrücken fuhren. Es war ein süßer Schmerz, den man gerne aushielt. Evrèl stieß ein tiefes, zufriedenes Knurren aus. Mit einer blitzschnellen Bewegung trieb er dem Betrunkenen eine seiner unterarmlangen Krallen zwischen die Rippen. Evrèl war geübt darin, zielsicher das Herz zu treffen und dem Opfer ein langes Leiden zu ersparen. Es war weniger eine Frage der Barmherzigkeit als vielmehr eine der Heimlichkeit. Geschrei und Gezappel waren nicht nur störend bei der Nahrungsaufnahme, sondern erregten auch ungewollte Aufmerksamkeit. Der erste Mensch, den Evrèl ohne die Anleitung eines Lehrers getötet hatte, war qualvoll verblutet, noch ehe Evrèl seine Energie in sich aufgenommen hatte. Er hatte bei jedem Versuch, das Herz des Opfers zu treffen, danebengestochen. Dank jahrzehntelanger Übung dauerte die Prozedur nun selten länger als ein paar Sekunden. Auch diesmal hatte Evrèl die Lebenskraft des Mannes aufgesogen, ehe dieser überhaupt bemerkt hatte, dass er im Begriff war, zu sterben.
Evrèl ließ die Leiche des Mannes unsanft auf den Boden fallen. Er fühlte sich wach und gestärkt. Die Krallen fuhren in seine Hände zurück, und auch sein Körper nahm wieder die Ausmaße eines durchschnittlich trainierten jungen Mannes an. In der Ferne läuteten die Glocken von Notre-Dame sieben Mal. Es war Zeit, zu gehen. Evrèl wandte sich ab. Er drehte sich nicht noch einmal nach dem leblosen Körper des Mannes um, dessen ausgehauchtes Leben Evrèl einmal mehr für ein paar Tage vor dem Verfall gerettet hatte.
2
Der kleine blasse Arm lugte unter der Decke hervor und hing schlaff über die Bettkante. Kein Muskel spannte sich, lediglich die Augäpfel, die unter den geschlossenen Lidern in unregelmäßigen Abständen zuckten, zeugten davon, dass der Junge noch lebte. Er erinnerte an eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt
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