5 Tage im Sommer
erwischten.
Es war so dunkel, dass er die Straße kaum erkennen konnte.
Er hörte auf zu rennen, weil er fürchtete, vom Weg abzukommen. Stattdessen ging er schnellen Schrittes die alte Straße hinauf, vorbei an den Abzweigungen zu den beiden anderen Häusern, die am See standen. Man bekam seine Nachbarn hier draußen nicht zu Gesicht, es sei denn, man begegnete einander im Auto. Dann hielt man stets nebeneinander an und plauderte ein Weilchen. David war es immer peinlich, wenn Grandma das tat. Es war nicht wie in Manhattan, wo man in einem großen Gebäude zusammen mit Hunderten von Leuten wohnte, die man zwar ständig sah, mit denen man aber ausdrücklich kein Wort wechselte. Hier war es genau anders herum; es gab nicht besonders viele Leute, aber wenn man ihnen über den Weg lief, musste man so tun, als würde man sie kennen.
Als er sich der Hauptstraße näherte, war es bereits ein wenig heller, und er konnte die Briefkästen erkennen, drei für Post und zwei für Zeitungen. Er fing wieder an zu laufen und erreichte die Briefkästen in dem Moment, als die Sonne über den Horizont stieg. Mit einem Schlag wurde die Nacht zum Tag. Er wusste nicht genau, welcher Kasten ihrer war, und darum griff er sich einfach irgendeine Zeitung und rannte den Weg zurück.
Sobald er außer Sichtweite der Hauptstraße war, blieb er stehen, zog die weiße Plastikhülle ab und faltete die Zeitung auseinander. Mit ausgestreckten Armen hielt er sie vor sich und betrachtete die Titelseite. Kein Bild seiner Mutter.
Er blätterte um, und da war sie.
Auf dem Bild sah sie fröhlich aus, und das verwirrte ihn. Dann wurde ihm klar, dass sie natürlich ein Bild von früher benutzt hatten. Ob sie jetzt lächelte, wusste niemand. Er warf die Zeitung zu Boden, trampelte sie in den Schmutz der alten Straße, setzte sich darauf und weinte.
Nach einigen Minuten stand er auf und schüttelte den Schmutz von der Zeitung. Unter dem lächelnden Gesicht seiner Mutter stand Vermisst seit Montag . In dem kurzen Artikel wurde ihr Name erwähnt, dass sie aus New York komme, dass sie ihre Mutter auf dem Cape besucht habe, dass sie drei Kinder habe, dass sie immer dasselbe Armband trage und dass sie nicht mehr gesehen worden sei, seit sie vor zwei Tagen beim Einkaufen gewesen war. Nichts, was David nicht bereits gewusst hätte. Er las weiter.
Der Artikel schloss mit dem Satz, dass Mrs. Parkers Mann sich unkooperativ verhalten und bei einem Anruf einfach aufgelegt habe. David erinnerte sich daran, aber zu dem Zeitpunkt war es ihm nicht sonderlich wichtig vorgekommen. Andauernd riefen Leute an und stellten Fragen, die man nicht beantworten wollte. Seine Eltern nannten sie Telefonwerber und sagten, man brauche mit ihnen nicht zu sprechen. Wenn sie anriefen, bekamen sie entweder ein freundliches »Tut mir Leid, aber nein« zu hören oder ein gereiztes »Lassen Sie uns zufrieden und streichen Sie uns von Ihrer Liste«. Der Anruf gestern war etwas anders gewesen, denn sein Dad hatte etwas über seine Mom gesagt, daran konnte David sich erinnern. Aber dann hatte er ebenso gereizt reagiert, wie bei einem von diesen Anrufen. Doch offenbar war jemand von der Zeitung dran gewesen, der nun schrieb, dass Dad wütend geworden war. Dad wurde manchmal wütend, wie jeder mal wütend wurde, Mom auch und David selbst ebenso. Aber so, wie es hier stand, klang es, als hätte Dad aufgelegt, weil er wusste, wo Mom war, es aber nicht sagen wollte. Dabei hatte sein Vater keine Ahnung, wo seine Mutter war.
In einem Kasten neben dem Artikel stand die Anzahl aller Leute, die bis jetzt in diesem Jahr landesweit vermisst wurden und nicht wieder nach Hause gekommen waren: 515 109. In der Erläuterung hieß es, dass Vermisste fast nie gefunden würden. Dass Leute, die andere entführten, ihnen meist sehr viel Leid zufügten und sie dann töteten. Dass Kidnapper, die Geld wollten, es umgehend verlangten. Dass die Polizei zu beschäftigt sei und ohne konkrete Hinweise nicht wisse, wo sie suchen solle. David verschlang den Artikel, vielleicht hatte Dad deswegen mit dem Mann gesprochen. Vielleicht hatte er seinen eigenen Privatdetektiv beauftragt, wie sie es im Fernsehen auch manchmal machten. Vielleicht würden sie Mom ganz allein finden müssen.
David faltete die Zeitung zusammen, klemmte sie unter den Arm und lief so schnell wie möglich zum Haus zurück. Er stieß die Fliegentür und die Innentür auf und rannte zum Schlafzimmer seiner Eltern. Sein Dad schreckte hoch und starrte ihn
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