54 - Deutsche Helden, Deutsche Herzen 06 - Die Kosaken
immer weiter, dem See entgegen. Hier stiegen die Berge höher an, und nach und nach traten sie immer enger zusammen. Sodann gab es eine Art von Schlucht, deren Wände kaum mehr als fünfzig bis sechzig Fuß auseinander steil emporstiegen.
Hier blieb Mila stehen und sagte:
„Wir sind am Ziel.“
„Hier? Hier ist das Versteck?“
„Ja. Versuche, ob du es erblickst!“
Georg schaute sich auf das aufmerksamste um; aber es war nichts zu bemerken, was einem Versteck ähnlich sah. Rechts und links ragten die senkrechten Felsenwände himmelan. An der einen, links, stand eine Tanne, wie Georg kaum jemals eine in seinem Leben gesehen hatte. Sie war ganz gewiß über hundert Fuß hoch, eine sogenannte Pechtanne, und von ungeheurem Umfang. Ihre unteren Äste waren nur fünf Fuß vom Boden entfernt. Überhaupt war sie so dicht beästet, daß man den Stamm gar nicht sehen konnte.
„Nun“, sagte Mila, „siehst du etwas?“
„Nein.“
„So komm!“
Mila blickte sich vorsichtig um, um zu sehen, ob vielleicht ein heimlicher Beobachter sich in der Nähe befinde, dann trat sie, als sie sich überzeugt hatte, daß dies nicht der Fall sei, zum Baum, wies nach dessen Wipfel und sagte: „Wir müssen dort hinauf!“
„Aber du, du wirst doch nicht auch da hinaufklettern wollen!“ fragte Georg.
„Warum nicht?“ entgegnete sie unbefangen, indem sie mit den beiden Händen nach einem der untersten Äste emporgriff. „Meinst du etwa, daß ich nicht die Kraft dazu habe? Paß auf!“
Jetzt fiel es Georg ein, daß die Frauen jener Gegend, da sie sehr viel reiten und geradeso wie die Männer im Sattel sitzen, unter ihren Röcken stets Männerhosen tragen. Daran hatte er nicht gedacht und mit seiner Frage also eine Dummheit ausgesprochen.
Mit einem kräftigen Ruck hatte sich Mila inzwischen wie ein Turner auf den Ast geschwungen, und Georg von Adlerhorst folgte ihr.
Man konnte auf dem engen Gezweig wie auf Stufen oder Leitersprossen emporsteigen. In der Nähe des Stamms hatten die Äste keine Nadeln, so daß es also auch in dieser Beziehung keine Hindernisse gab. Die Tanne war mit einem riesigen, grün ausgeschlagenen Turm zu vergleichen, in dessen Innerem es anstatt der Treppe unzählige übereinandergefügte und sich vielfach durchkreuzende Äste gab.
So stieg Mila voran, und Georg folgte ihr, höher und immer höher. Einige Male ruhten sie, denn der Aufstieg war freilich nicht so bequem wie auf einer Treppe.
Sie mochten wohl gegen siebzig Fuß emporgestiegen sein, da hielt Mila an und sagte:
„Jetzt sind wir fast da. Nun schau dich einmal um!“
Georg entsprach dieser Aufforderung. Doch er sah nichts als den Stamm der Tanne, aus dem die Äste in zahlreichen Quirlen standen, und dann rundum das dichte, undurchdringlich erscheinende Nadelgrün des Baums.
„So folge mir weiter!“ gebot Mila und schritt auf einem starken Ast von dem Stamm rechtwinklig ab nach außen hin. Das war nicht gefährlich, denn in Schulterhöhe gab es einen zweiten Ast, an dem man sich halten konnte, und beide Äste waren trotz der Höhe noch immer stark genug, um die Last zweier Menschen zu tragen.
Plötzlich kniete Mila nieder, balancierte auf dem Ast, steckte beide Arme in die grüne, dichte Nadelwand und schob dieselbe auseinander.
„Nun, siehst du es nun?“ fragte sie.
„Nein.“
Georg sah wirklich nichts als eine dunkle Stelle und wußte nicht, was aus derselben zu machen sei.
„So folge mir noch weiter, aber vorsichtig!“
Mila schlüpfte nun durch das mit Nadeln dichtbesetzte Gezweig hindurch, während Georg noch drei Schritte auf dem Ast vorwärts schritt und dann ebenfalls in die Nadeln eindrang.
Es war vollständig dunkel um ihn. Schritt er doch gerade vom Stamm des Baums ab auf dem Ast fort, immer weiter und weiter hinaus, durch Tannengezweig, das ihm in das Gesicht schlug. Jeden Augenblick konnte der Ast zu Ende sein, und er stürzte in die grausige Tiefe hinab.
Da fühlte er sich von Milas Hand ergriffen.
„Halt!“ sagte sie. „Jetzt ist's genug. Ich will Licht machen. Warte ein wenig!“
Georg hörte darauf ein Streichholz anstreichen. Dann flackerte ein Flämmchen auf, und dann brannte ein Talglicht, das in einem Leuchter steckte, den Mila in der Hand hielt, und ihr hübsches, rosiges Gesicht blickte ihm lachend entgegen!
Er stand noch immer auf dem unteren Ast, der allerdings schwächer geworden war, hielt sich mit den Händen an dem oberen fest, und als er rechts und links, über sich und unter sich die
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