55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät
sie ins Zuchthaus. Gut, heute ist's genug; heute wird's gemacht. Der Teufel soll lieber sie haben als mich!“
Und in dem offenen Kasten herumwühlend, dachte er weiter:
„Ich habe sie oft gewarnt; ich brauche mir kein Gewissen zu machen. Da sind Kleider genug, die ich brauche, und dort steht die Kasse des Direktors. Hahahaha! Mich ins Zuchthaus bringen! Wir wollen sehen, wer dieses Mal gewinnt!“
Als er sich alles zurecht gelegt hatte, verließ er die Garderobe, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in eine Mauerritze, da er in seinen Trikots keine Tasche hatte. Dann begab er sich nach dem Festplatz.
Dort befanden sich die Künstler bereits in voller Handlung. Ein hohes Turmseil weckte die gespannte Erwartung aller Zuschauer. Daneben waren mehrere tiefere Seile gezogen. Es gab ein Schwebereck und außerdem den ganzen equilibristischen Apparat, der bei solchen Schaustellungen gewöhnlich in Anwendung kommt. Zur ebenen Erde waren große Tücher ausgebreitet, auf denen die Lustigmacher ihre Späße zu treiben hatten. Die größte Aufmerksamkeit aber erregte ein hohes Gerüst, auf welchem Abu Hassan, der orientalische Zauberer, seine unbegreiflichen Künste, die den Glanz- und Schlußpunkt der Vorstellung bildeten, produzieren sollte.
Als der Bajazzo ankam, agierten einige der Künstler auf dem niedrigen Seil, sodann folgte ein komisches Intermezzo, bei welchem er die Hauptrolle zu spielen hatte. Sie gelang ihm vortrefflich. Er mochte noch so sehr betrunken sein, während der ‚Arbeit‘ hatte der Spiritus keine Gewalt über ihn.
Nun folgte das erste Betreten des Turmseils. Die Künstlerin lehnte nachlässig an der Leiter, welche zur Höhe führte. Sie warf das Tuch ab und stieg empor. Droben lag die Balancierstange. Sie ergriff dieselbe und machte dem Publikum eine Verbeugung. Darauf überzeugte sie sich, ob auch die vom Hauptseil nach unten hängenden Halteseile scharf angezogen seien. An diesen Seilen standen ihre Kollegen, unter ihnen auch der Bajazzo. Er hatte sich seinen Ort mit Absicht auserwählt. Gerade über ihm war die Stelle, an welcher sie sich frei niederzulegen pflegte. Sie streckte dann Arme und Beine von sich und balancierte die Stange auf der Stirn.
Jetzt schien alles in bester Ordnung zu sein – sie betrat das Seil. Es begann in einer Höhe von vielleicht fünfzig Fuß und stieg dann bis über achtzig Fuß empor. Die Künstlerin erklomm diese Bahn sehr glücklich unter allerlei kühnen Abwechslungen in Schritt und Sprung. Dann schritt sie rückwärts wieder herab. Das Seil ging hier sehr steil empor; es war eine schwierige Partie; ein Fehltritt hätte sie zum Sturz in die Tiefe gebracht, aber das Wagnis gelang.
Fast in der Mitte des Seils angekommen, drehte sie sich mit einem verwegenen Sprung um. Ein rauschender Applaus war zu hören. Sie ließ ihn verklingen und bedankte sich durch eine Verneigung. Dann kniete sie langsam nieder, gerade über dem Bajazzo, welcher das Halteseil mit aller Kraft anzog. Seine Augen glühten in einem wilden, teuflischen Entschluß empor. Jetzt setzte sie sich auf das Seil und ließ sich dann langsam hintenüber sinken. Als sie lang ausgestreckt, das Gleichgewicht gefunden hatte, hob sie das eine Ende der Stange auf die Stirn und begann zu balancieren. Sodann streckte sie zunächst die Arme und später die Beine empor, ohne daß die Stange oder sie selbst aus dem Gleichgewicht gekommen wären. Dies erweckte einen dreifach lauteren Beifall als vorher.
Auf diesen Augenblick hatte der Bajazzo gewartet. Gedankenschnell sein Halteseil nachlassend und wieder anziehend, so daß der Vorgang nur von einem scharfen und aufmerksamen Kennerauge bemerkt werden konnte, teilte er dem Hauptseil eine plötzliche, scharfe Erschütterung mit. Ein schriller Aufschrei der Künstlerin überschmetterte den Applaus des Publikums; die Stange neigte sich, erst langsam und dann schneller, und stürzte endlich herab. Die Künstlerin versuchte, mit den Händen das Seil zu erhaschen – sie griff in die Luft, flog herab und schlug mit einem dumpfen Krach gerade neben dem Bajazzo auf die Erde nieder.
Dieser stand scheinbar wie vom Donner gerührt, den fürchterlichen Schrei, den tausend anwesende Menschen ausstießen, gar nicht beachtend; dann aber schlug er sich die Hände vor den Kopf und warf sich jammernd neben der Verunglückten nieder.
Zugleich aber legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Es war die des Direktors.
„Mörder!“ rief dieser. „Ich habe es gesehen, es
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