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55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät

55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät

Titel: 55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Gewand immer näher kommen, nicht eilig, wie um dem Regen zu entrinnen, sondern langsam, langsam, als sei diese Gestalt ein überirdisches Wesen, dem die elementaren Gewalten der Erde nichts anzuhaben vermögen.
    Marion hatte, seit sie von der Treppenstufe aufgestanden war, diesen Platz noch nicht wieder eingenommen. Sie trat hart an Müller heran und sagte:
    „Liama, der Geist meiner Mutter!“
    Und je näher die Gestalt kam, desto ängstlicher schmiegte sich das Mädchen in die Ecke hinter der Turmtreppe und an den Deutschen, welcher dem vermeintlichen Geist mit eigentümlichen Gefühlen entgegenblickte.
    Die Erscheinung kam aus der Gegend her, in welcher das Grab lag. Müller hegte keinen Gespensterglauben, doch konnte er ein gewissen Grauen nicht ganz unterdrücken, als das hohe, fremdartige Wesen unter Blitz und Donner zwischen den Felsen daher geschwebt kam. Marion hatte sich während des Schiffbruchs so unerschrocken gezeigt; jetzt aber schmiegte sie sich fester und fester an Müller, so fest, daß dieser unwillkürlich den Arm um sie legte, was sie gar nicht zu bemerken schien. Und als die Gestalt jetzt den Eingang erreicht hatte, hob das Mädchen sogar den Arm und legte denselben so fest um den Doktor, daß dieser das furchtsame Beben der heimlich Geliebten deutlich fühlte.
    Unter der Tür wendete sich die Erscheinung um, so daß sie nach dem Wald zu stand, erhob die beiden Arme und rief mit einer tiefen, klangvollen Stimme:
    „Allah il Allah! Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tag des Gerichts. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führst den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg derer, über welche du zürnst, und nicht den Weg der Irrenden!“
    Sie ließ die Arme sinken, trat etwas weiter zurück und betete weiter:
    „Allah ist's, der den Blitz erzeuget und die Welten mit Regen schwängert. Der Donner verkündet sein Lob, und die Engel preisen ihn mit Entsetzen. Er sendet seine Blitze und zerschmettert, wen er will. Allah il Allah, akbar Allah!“
    Jetzt trat sie zur Treppe und stieg dieselbe hinauf, ohne die beiden zu bemerken, welche seitwärts hinter den Stufen standen. Und als ob ihre Worte Wunderkräfte besäßen, zuckte noch ein letzter Blitz auf, ein fürchterlicher Donnerschlag erscholl, und dann ward es still. Der Regen goß noch eine Minute lang hernieder, ward dann dünner und hörte rasch gänzlich auf. Die Helligkeit des Tages trat wieder ein, aber die fremdartige Erscheinung war im oberen Teil des Turms verschwunden.
    Müller stand mit Marion noch auf derselben Stelle, eng verschlungen mit ihr. Es war ihm, als müsse er sie so festhalten für alle Ewigkeit. Er blickte ihr in das bleiche Angesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht.
    „Marion!“ flüsterte er leise, sich zu ihr niederbeugend.
    Dieses Wort erweckte sie; es war ein unvorsichtiges Wort gewesen. Wie durfte der Hauslehrer wagen, sie, die Baronesse, so beim Namen zu nennen! Er fühlte diese Unbedachtsamkeit selbst, doch es war zu spät, er konnte sie nicht zurücknehmen. Sie öffnete die Augen; ihr Blick traf den seinen; es war, als ob eine Flamme daraus den ihrigen entzünde und belebe. Eine tiefe Röte verbreitete sich über ihr vorher leichenblasses Gesicht, sie ließ den Arm sinken, der sich an ihm festgehalten hatte. Sie trat zur Seite, so daß er gezwungen war, auch seinen Arm von ihr zu nehmen, und fragte ihn leise:
    „Wo ist sie?“
    „Dort oben“, antwortete Müller, zur Treppe deutend.
    „Sie wird zurückkehren. Lassen Sie uns gehen!“ bat sie.
    Er schüttelte den Kopf und antwortete flüsternd zurück:
    „Nein, bleiben wir. Warten wir das Ereignis ruhig ab! Oder glauben Sie wirklich, daß die Gestalt ein Geist gewesen sei?“
    „Ja“, antwortete Marion im Ton der innigsten Überzeugung. „Der Geist meiner Mutter.“
    „Und wenn Sie irren?“
    „Ich irre nicht!“ sagte sie in bestimmtem Ton.
    „Haben Sie diese Erscheinung bereits einmal gesehen?“
    „Noch nie; aber in der ganzen Umgegend erzählt man sich von ihr. Es ist kein Trug.“
    Sie schauderte bei diesen Worten sichtbar zusammen. Müller aber schüttelte den Kopf und sagte:
    „Geister erscheinen nicht des Tages. Geister werden nicht naß; ich sah, daß der weiße Haïk, den die Fremde nach arabischer Sitte trug, vom Regen triefte. Und Geister beten nicht mit lauter Stimme die Worte des

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