6. Die Rinucci Brüder: Neapel sehen und sich verlieben
versprochen, keine Verbitterung zu empfinden.“
„So? Daran erinnere ich mich nicht.“
„An dem Tag, als du deine Sachen abgeholt hast, haben wir uns darüber unterhalten …“
„O ja, wir waren sehr zivilisiert, nicht wahr? Ich kann mich nur nicht daran erinnern, dass wir überhaupt etwas besprochen haben. Wir haben einen Kaffee getrunken, und nach fünf Minuten habe ich mich verabschiedet.“
„Es gab auch nicht viel zu besprechen, oder?“
„Nein, du hattest mich nur hinausgeworfen, das war alles“, antwortete er ironisch.
„Ich habe dich gebeten, nicht verbittert zu sein. Ich wollte nicht, dass du mich hasst. Aber das war wahrscheinlich eine Illusion.“
„Ich hasse dich nicht“, entgegnete er leise. „Doch ich kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen.“ „Nein, das können wir beide nicht. Wir hatten eine wunderschöne Zeit, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Erinnerst du dich nicht gern daran?“
„Nein“, brachte er überraschend heftig hervor. „Was nützen mir die Erinnerungen, wenn sie der Wirklichkeit nicht mehr standhalten?“
Sie stieß einen Seufzer aus. „Vielleicht hast du recht.“
„Bist du gekommen, um dich über mich lustig zu machen?“
„Unsinn, was für eine absurde Idee. Aber ich habe den Eindruck, dir geht es gut ohne mich.“ Er warf ihr einen feindseligen Blick zu und war ausnahmsweise einmal froh, dass sie ihn nicht sehen konnte. Es lag ihm auf der Zunge zu antworten, sie wisse nicht, wovon sie redete, aber er
beherrschte sich. Vielleicht wollte sie ihn nur provozieren. Also musste er vorsichtig sein.
„Was ist das für ein Kunde, mit dem du verabredet bist?“, erkundigte er sich, nur um etwas zu sagen, denn das Schweigen ging ihm auf die Nerven.
„Es ist kein Kunde, das habe ich nur behauptet, um deine Eltern nicht mit irgendwelchen Erklärungen zu langweilen. Sandro Danzi und ich arbeiten zusammen. Er besitzt ein Unternehmen, das Ausflüge und dergleichen für Blinde organisiert.“
„Ist er auch blind?“ Die Frage konnte er sich nicht verbeißen.
„Ist das wichtig?“, fuhr sie ihn prompt an.
„Meine Güte, darf ich etwa keine harmlosen Fragen mehr stellen?“
„Warum willst du immer als Erstes wissen, ob jemand, den ich kenne, blind ist oder nicht, so als wäre alles andere vergleichsweise unwichtig?“
Er gestand sich ein, dass der Vorwurf nicht unberechtigt war. Es verhielt sich gleichwohl anders, als sie glaubte. Er befürchtete, dass ein blinder Mann ihr näher stand als er und mehr mit ihr gemeinsam hatte, sodass er sich ausgeschlossen fühlte.
„Das hast du falsch verstanden.“ Er wünschte, er könnte sich überwinden und seine Eifersucht eingestehen. Warum spürte sie das eigentlich nicht? Sie spürte doch sonst so viel.
Celia ärgerte sich über sich selbst. Wie oft hatte sie ihm schon Vorwürfe gemacht und ihn verletzt, obwohl sie genau wusste, dass er es nicht böse meinte. Und nun wiederholte sie ihren Fehler. Gleichwohl durfte sie jetzt nicht schwach werden, dann wäre alles umsonst gewesen.
Deshalb saß sie ganz ruhig da und lauschte. Trotz der vielen Geräusche um sie herum nahm sie jede seiner Regungen wahr. Sie kannte sein Gesicht, seinen Körper, und sie spürte seine Anspannung. Sein Schweigen sprach Bände, er war offenbar sehr unglücklich.
„Sieh mich nicht so an“, bat sie ihn.
„Wie sehe ich dich denn an?“
„Dein Schweigen verrät es mir“, erwiderte sie traurig. „Es sagt mir immer alles.“
Warum bin ich eigentlich hier?, überlegte sie. Einem Impuls folgend hatte sie in London alles aufgegeben und war nach Neapel geflogen in der Hoffnung, ihn zu überzeugen, dass er sie lieben konnte, ohne sie einzuengen. Doch innerhalb weniger Stunden hatten sie sich in das alte
Verhaltensmuster verstrickt. Nichts hatte sich geändert. Es schmerzte, dies zuzugeben, aber vielleicht war die Trennung wirklich die beste Lösung.
„Hoffst du, einen Beratervertrag mit Sandro Danzi abzuschließen?“, wechselte Francesco das Thema. „Nein. Ich habe mein Geld in seine Firma gesteckt und möchte mich jetzt aktiv beteiligen.“ Auf einmal fing Jacko an leise zu knurren.
„Was hast du?“ Celia streichelte ihn sanft.
„Er hat einen anderen Blindenhund entdeckt“, berichtete Francesco.
Dieser Hund führte einen jungen Mann, den Francesco auf Anfang dreißig schätzte, in Richtung ihres Tisches.
„Hallo, ich bin da!“, rief der Fremde in diesem Moment.
„Sandro!“ Celias Miene hellte sich
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