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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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ohne aufzuwachen.
    Dies war der Grund, daß man nicht eher erfuhr, wer er sei, als bis Pastor Matthesius kam, der ihn kannte. Matthesius war Gefängnisgeistlicher und pflegte darum täglich die Arrestlokale einmal zu durchwandern. Er traf Seidelmann und erzählte es ihm.
    Man kann sich denken, welche Sorge in dem Haus Nummer zehn der Wasserstraße herrschte. Wilhelm Fels fehlte seit gestern mittag, und seit Mitternacht war Robert verschwunden. Bertram hustete ohne Unterlaß, die Kleinen jammerten, Marie weinte. Die letztere begab sich mit Tagesanbruch nach dem Atelier, in welchem Fels gearbeitet hatte. Sie mußte unverrichteter Dinge zurückkehren, denn man hatte noch nicht geöffnet.
    Sie war kaum eine Viertelstunde zu Hause, so wurde geklopft, und der Vorsteher trat ein. Er stellte sich, ohne einen Gruß auszusprechen, an der Tür auf, erhob den Arm und sagte:
    „Wehe dir, Chorazim, wehe dir, Bethsaida, wehe dir, Jerusalem! Ich habe eure Kinder unter mir versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, ihr aber habt es nicht gewollt!“
    Der Vater und Marie ahnten sogleich, daß sein Erscheinen mit den Verschwundenen in Verbindung stehe. Darum fragte der erstere, indem er vor Husten kaum reden konnte:
    „Warum rufen Sie Wehe? Was ist geschehen?“
    „Das will ich Euch sagen, alter, unverbesserlicher Sünder! Eure Wohnung ist nichts gewesen, als eine Diebes- und Räuberhöhle!“
    „Herr Seidelmann“, hustete der Ausgezehrte. „Das ist nicht wahr! Wir sind ehrliche Leute, was kann man uns nachsagen?“
    „Hat Euer Sohn Euch nicht gestern abend eine Mietzinsquittung gebracht, Bertram?“
    „Ja. Er hat Ihnen doch den Zins bezahlt?“
    „Ja, das hat er. Aber wißt Ihr, wer ihm das Geld gegeben hat?“
    „Ja.“
    „Ah! Wer denn?“
    „Ein Jude hier in der Straße.“
    „Lüge, teuflische Lüge! Höllischer Trug! Ein Jude gibt niemals Geld. Die Anhänger der Lehre Moses haben kein christliches Gemüt. Nein, kein Mensch hat ihm das Geld gegeben, sondern er hat es sich genommen.“
    „Genommen? Was soll das heißen?“ keuchte der Alte, der jetzt vor Schreck zu zittern begann. „Er hat gesagt, daß er es erhalten hat, und was er sagt, das ist wahr. Robert hat mir niemals eine Lüge gesagt!“
    „Euch nicht, weil Ihr sein Verbündeter, sein Lehrmeister im Verbrechen seid. Mich aber täuscht Ihr nicht. Er hat das Geld genommen.“
    „Gott der Herr! Soll das etwa heißen, daß er es gestohlen hat?“
    „Ja!“
    Da fuhr der Alte von seinem Stuhl auf und rief:
    „Herr Vorsteher, ich bitte Sie, um Gottes willen, seien Sie doch nicht mein Mörder! Das wäre mein Tod!“
    „Ich muß die Wahrheit sagen, denn die Bibel sagt: Die Lüge ist ein häßlicher Schandfleck an dem Menschen und ist gemein bei ungezogenen Leuten. Ihr Sohn hat das Geld, wovon er die Miete bezahlte, gestohlen. Und dann, nach Mitternacht, hat er sogar eingebrochen.“
    Marie stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Die Kleinen wimmerten. Der Alte warf die beiden Hände in die Luft und griff umher, als ob er nacheinem Halt suche.
    „Ein – ge – bro – chen!“ stöhnte er. „Das – das ist eine – eine – Lüge! Das – das tut mein – mein Robert – nicht!“
    Die Worte hatten einen Klang, als wären sie mit Hilfe eines Quirls aus dem Mund geholt worden.
    „Es ist keine Lüge!“ fuhr der Vorsteher fort. „Haben Sie nicht nach Mitternacht da drüben zwei Schüsse gehört?“
    „Ja – aaa!“
    „Nun, Euer Sohn hat mit dem Riesen Bormann dort eingebrochen, um aus der Schublade des gnädigen Fräuleins die Juwelen zu stehlen. Man hat sie erwischt und festgenommen und nun stecken sie im Gefängnis, wo die Strafe ihrer wartet.“
    Die Augen des alten, braven Mannes wurden stier; aus seinen Lippen wich alle Röte, und sein eingefallenes Gesicht war aschfahl geworden. Seine Brust arbeitete wie ein Vulkan, bei welchem eine Eruption bevorsteht.
    „Riese – Bormann – ein – ge – brochen! Gefäng – nis! Gott – mein Gott! – Ich – ich ersticke! Es – es – kann nicht sein! Es – ist – ein Lüge!“
    „Lästere nicht, Alter!“ rief der Fromme. „Ich komme aus dem Gefängnis. Ich habe ihn gesehen. Er liegt noch wie tot da von dem Schlag, den er mit dem Totschläger erhalten hat, als er den Polizisten mit einem Messer erstechen wollte.“
    „Tot –! Mess – sser! Er – er – er – stech –“
    Mehr brachte er nicht heraus, wenigstens keine Worte mehr.

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