60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
schlauer Fuchs. Man müßte sehr vorsichtig sein.“
„Meinen Sie etwa, daß er dem Vorsteher der Schwestern- und Brüdergemeinde an Klugheit überlegen sei?“
„Hm, wer kann das entscheiden?“
„Herr Baron, ich bin ein Verkünder der Heiligen Schrift, und diese sagt: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!“
„Das letztere kann wegfallen, das erstere aber will ich von Ihnen erwarten!“ lachte der Baron. „Wissen Sie vielleicht, wer das Geld von dem Juden geholt hat?“
„Der Robert jedenfalls.“
„So müßte es gerade nur seine Person sein, auf welche sich das Interesse des Juden bezieht.“
„Vermutlich!“
„Forschen Sie, forschen Sie! Aber, wie gesagt, vorsichtig, höchst vorsichtig! Da Geld vorhanden ist, so vermute ich, daß die Not bei Bertrams einstweilen gewichen ist?“
„Grad das Gegenteil. Sie ist in erneutem und allerhöchstem Maß eingetreten.“
„Wieso?“
„Haben Sie denn noch nichts von den neuesten Neuigkeiten, welche die ganze Bewohnerschaft der Residenz aufregen, vernommen?“
„Nein.“
„Das ist kaum glaublich!“
„Es ist aber sehr leicht erklärlich. Ich war sehr spät noch zu einer Soiree und bin daher erst vor einer Viertelstunde erwacht. Was gibt es denn?“
„Nun, zunächst ist gestern der Mechanikus Wilhelm Fels arretiert worden. Er sitzt in Untersuchung.“
„Arretiert und in Untersuchung? Weshalb denn?“
„Wegen Unterschlagung und Veruntreuung von Arbeitsmaterial.“
„Ist ihm recht geschehen! Was sagt seine Geliebte dazu?“
„Seine Geliebte? Wen meinen Sie, gnädiger Herr?“
„Nun, Marie Bertram!“
„Ah, das ist seine Geliebte? Drum, drum schrie sie so auf, als sie hörte, daß er gefangen sei! Aber sie kann nicht an ihn denken, denn sie hat jetzt mit ihren eigenen Angelegenheiten genug zu tun. Ihr Vater ist tot.“
„Der alte Bertram? Endlich, endlich!“
Es blitzte einen Augenblick lang wie ein schadenfroher Triumph über das Gesicht des Barons. Der Vorsteher bemerkte es. Er ließ ein verschmitztes, ironisches Lächeln sehen und antwortete: „Endlich, sagen Sie? Die Auflösung des Schwindsüchtigen ließ sich allerdings in Bälde erwarten. Vielleicht haben Sie sich darauf gefreut, der Versorger seiner Waisen zu werden?“
Der Gefragte wußte, daß er durchschaut sei, aber er nahm eine möglichst unbefangene Miene an und sagte in ernstem Ton:
„Wollen Sie vergessen, daß der Tote in meinem Haus gewohnt hat und auch da gestorben ist?“
„Ja, ja!“ nickte der Administrator. „Das legt Ihnen gewisse moralische, humanitäre und auch christliche Verpflichtungen auf. Vielleicht überlasse ich es Ihnen, dem Drang Ihres wohltätigen, weichen Herzens Folge zu leisten.“
„Sie, mir? Wieso?“
„Ich werde Vormund sein.“
„Das ist recht! Das ist gut!“ rief der Baron im Ton der Genugtuung. „Was haben Sie beschlossen?“
Herr Seidelmann zupfte nachdenklich an seinen Handschuhen herum. Er machte in diesem Augenblick ganz das Gesicht eines Fuchses in der Fabel, als dieser der Henne erzählte, daß der Marder weder Fleisch noch Ei vertragen könne. Dann nickte er vor sich hin und sagte langsam: „Euer Gnaden wissen, daß ich ein treuer und eifriger Arbeiter im Weinberg des Herrn bin?“
„Ja, ja“, antwortete der Baron ungeduldig. „Wir wissen beide, was wir voneinander zu halten haben, denn wir haben uns ja zur Genüge kennengelernt.“
„Ich hoffe das, ich hoffe das! Wird mir das Amt des Vormunds übergeben – definitiv ist es nämlich noch nicht geschehen –, so werde ich es ebenso treu und eifrig verwalten. Vor allen Dingen habe ich darauf zu sehen, daß die mir anvertrauten Seelen in eine christlich-fromme Umgebung kommen.“
„Ja doch, ja! Aber weiter!“
„Die Kleinen befinden sich bereits im Waisenhaus. Sie sind da am besten aufgehoben, und ihre Erziehung macht mir keine Sorge; sie ist eine sehr streng religiöse. Was aber Marie, die Tochter betrifft, die ja das Alter der Mündigkeit noch nicht erreicht hat, so ist sie ein äußerlich keineswegs unansehnliches Mädchen. Ich möchte sie nicht in niederen Verhältnissen verkümmern lassen und habe daher – hm, ich weiß nicht, ob ich unbescheiden erscheinen werde, Herr Baron!“
Der Baron hatte ihm mit allen Zeichen der Ungeduld zugehört. Jetzt rief er, ein wenig mit dem Fuß stampfend:
„Was denn? Was denn? So reden Sie doch, beim Teufel! Seien Sie so unbescheiden, wie Sie wollen! Nur bringen Sie nichts, was gegen meinen
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