60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Es begann ganz eigentümlich in seiner Kehle zu gurgeln; es gab ihm einige Stöße; dann war es, als ob jemand ihn packe und mit aller Macht zur Erde schmettere. Er stürzte mit fürchterlicher Wucht nieder, und ein dicker, beinahe armesstarker Blutstrom quoll aus seinem Mund. Der Schreck hatte seine Adern zerschnitten und seine Lunge zerrissen; ein Blutsturz machte ihn zur Leiche.
Marie stieß abermals einen Schrei aus. Er klang, als wenn er gar nicht aus einer menschlichen Kehle komme. Sie warf sich auf den Vater, mitten in die rauchende Blutlache hinein. Die Kleinen kamen auch herbei, voller Angst und Entsetzen über den grausigen Anblick.
„Gott! Gott! Erbarme dich!“ rief Marie. „Der Vater stirbt. Unser guter Vater stirbt! Helft, helft! Wir müssen ihn aufrichten!“
Die schwachen Geschwister konnten nicht helfen. Sie schleppte den Toten zur Wand, um ihn an derselben aufzurichten. Der Vorsteher stand dabei, ohne ihr zu helfen.
Da wurde die Tür geöffnet. Die Blinde erschien. Sie hatte den Lärm über sich gehört und dann einen schweren Fall. Nachher war ihr Wasser von oben durch die halbfaule Decke in das Gesicht getropft; sie dachte, Wasser, es war aber Blut. Sie hatte es mit den Händen breitgewischt und sah nun schrecklich aus. Sie hatte sehen wollen, was hier oben vorgehe und sich heraufgetappt.
„Was ist's denn? Was jammerst du, Marie?“
„Der Vater stirbt! Der Vater stirbt!“ jammerte die Gefragte. „Gott, mein Gott! Kann mir denn niemand helfen?“
„Er stirbt? O du mein Heiland! Und ich kann nicht sehen!“ klagte die Blinde. „Ist denn weiter niemand da?“
„Ja, es ist jemand hier“, ertönte die Stimme des frommen Mannes. „Gott läßt selbst den Unbußfertigen nicht allein in seiner letzten Stunde.“
„Sie, Herr Seidelmann? So haben Sie ihn gewiß wieder einmal bis aufs Blut geärgert. Kein Mensch kann das so gut wie Sie!“
„Weib, zügle deine Zunge! Hier hat Gott gerichtet. Der Sohn dieses Mannes sitzt als Einbrecher im Gefängnis. Der Vater trägt die Schuld an den Taten dieses ungeratenen Buben; darum wurde er von Gott mit dem Tod bestraft. Und doch ist die ewige Gerechtigkeit nicht ganz ohne Barmherzigkeit. Die Gnade des ewig Langmütigen hat den Alten abgerufen, damit er die Verurteilung seines Sohnes nicht erleben möge.“
Die Blinde hatte sich ihm genähert. Es war, als ob ihr die Augen aus dem Kopf treten wollten, so waren dieselben dahin gerichtet, wo der Vorsteher stand.
„Wie?“ fragte sie mit bebender Stimme. „Robert soll ein Einbrecher sein? Er soll im Gefängnis sitzen?“
„Ja. Ich war bei ihm.“
„Sie haben ihn im Gefängnis gesehen?“
„Mit diesen meinen Augen!“
„Und Sie sind dann hierhergeeilt, um seinem Vater die Kunde zu überbringen?“
„Wie lieblich sind die Füße der Boten, welche Frieden predigen und das Heil verkündigen!“
„Den Frieden und das Heil?“ fragte sie mit erhobener Stimme. „Herr Seidelmann, wenn Sie wirklich die Wahrheit reden, wenn Robert wirklich im Gefängnis steckt, so ist er sicher unschuldig! Sie selbst aber gehören hinein. Sie sind der Mörder, der vorsätzliche Mörder dieses braven Mannes, dessen Familie nur den einen Fehler begangen hat, ein Logis zu bewohnen, dessen Administrator Sie sind. Die weltliche Obrigkeit kann Ihnen wohl nichts anhaben, aber Gott wird Sie richten!“
Da rief er ihr zornig entgegen:
„Was höre ich? Ist denn der Antichrist in Gestalt einer blinden Frau auf die Erde gekommen? Diese Menschen sind allzumal Sünder, einer wie der andere. Und in diesem Haus ist das Verderben größer als zur Zeit Noah, da die Sündflut hereinbrach. Weiß denn die Frau Fels bereits, warum ihr Sohn seit gestern nicht nach Hause gekommen ist?“
„Jedenfalls, weil er zu arbeiten hat!“
„Jetzt nicht. Aber später wird er zu arbeiten haben. Wolle zu zupfen und Flachs zu spinnen im Zuchthaus!“
„Im Zuchthaus?“ rief sie. „Was soll das bedeuten?“
„Nun, ist gestern nicht sein Prinzipal hier gewesen, um die Maschine des Engländers zu sehen? Ist diese Maschine nicht von der Polizei abgeholt worden? Wilhelm Fels hat Arbeitsmaterial unterschlagen und ist gestern mittag arretiert worden.“
„Arretiert!“ kreischte die Blinde auf.
„Arretiert!“ schrie auch Marie, indem sie sich entsetzt von der Leiche wegwendete und zur Mutter des Geliebten herüberwankte. „Frau Fels, glauben Sie das nicht, glauben Sie das nicht!“ jammerte sie.
„Glaubt es oder glaubt es nicht!“
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