60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Sie um eins, aber um ein einziges!“
„Gut! Ich werde Sie bestrafen!“
„Womit?“
„Damit, daß ich Ihnen mein bestes Gedicht vorlese und Sie zwinge, zu sagen, daß es gut ist.“
„Schön! Ich gestatte Ihnen das!“
Sie nahm von einem Nipptischchen ein kleines Album herüber, schlug dasselbe auf und las:
„Still und einsam blühst du Rose;
Ach, dein Duft ist nur für mich
Und die Pracht der zarten Farben.
Rose, dich nur liebe ich!
Herrlich prangt des Taues Perle
Auf dem Blatt im Sonnenschein.
Einer Venus Strahlenauge.
Holde Rose, wärst du mein!
Ziehe nicht des Kelches Falten
In Verschmähung spröde zu!
Willst du dich nicht mir ergeben?
Rose, ach, wie schön bist du!“
Sie schlug das Album zu, blickte ihn erwartungsvoll an und fragte:
„Nun? Wie gefällt es Ihnen?“
Er zuckte leise mit den Achseln auf und nieder, nickte ihr vertraulich zu und antwortete:
„Nicht übel!“
„Nicht übel!“ rief sie entsetzt. „Gibt es kein anderes Urteil?“
„O doch! Es gibt zwei Urteile. Das eine lautet: Nicht übel. Das andere jedoch heißt: Abscheulich!“
Da nahmen ihre Züge plötzlich einen finsteren, zornigen Ausdruck an.
„Erklären Sie sich näher!“ sagte sie in befehlendem Ton.
„Schön! Als Wespe im Kasten ist das Ding nicht übel. Aber als Wespe für andere ist es abscheulich. Als Stilübung einer jungen Dame ist es psychologisch sogar interessant; aber als Gedicht, welches veröffentlicht werden soll, ist es geradezu unmöglich!“
Sie war bleich geworden. Sein Verhalten war nicht nur grob, sondern sogar beleidigend. Er sah das, legte ihr begütigend die Hand auf den Arm und sagte:
„Verzeihung! Es tut weh! Nicht wahr?“
„Allerdings!“
„Aber ich meine es gut. Sie verraten in diesen Strophen Ihr ganzes Herz, Ihre Gedanken, all Ihr Sehnen. Sie denken sich einen Jüngling, der vor Ihnen steht. Was soll er bei Ihrem Anblick empfinden? Dich nur liebe ich! Wie schön bist du! Wärst du mein! Ergib dich mir! Ist ein solcher Verrat nicht abscheulich?“
Jetzt war sie noch bleicher als vorher. Sie vermochte nicht zu antworten. Sie hielt die Wimpern tief gesenkt, so daß er ihr nicht in die Augen blicken konnte. Da hob er ihr das Köpfchen empor. Jetzt war sie gezwungen, ihn anzublicken. Das vorher förmlich funkensprühende Auge war jetzt völlig glanzlos geworden.
„Nicht wahr, Judith, ich habe recht?“
Er fragte das in einem so warmen, milden und eindringlichen Ton, daß sie plötzlich beide Arme um ihn schlang und ihn fest an sich riß.
„Sie haben recht!“ antwortete sie. „Aber kann ich anders? Kann ich gegen das Feuer, welches in mir brennt? Kann ich gegen die Wünsche, welche in mir glühen? Ich bin eine Tochter des Orients!“
Er wagte es nicht, sich gegen diese Umarmung zu sträuben.
„Aber dichten dürfen Sie nicht, wenigstens nicht auf dem Papier. Sie selbst sind ein Gedicht, ein farbenprächtiges Tropenbild. Die Wogen Ihres Haares sind Reime, wie sie kein Freiligrath und kein Rittershaus volltönender komponieren könnte. Ihre herrlichen Schultern, Ihre entzückenden Arme, Ihr glühender Busen, das sind Strophen, denen kein Leser widerstehen kann. Ihre Augen sind Oden, begeisterte Oden, welche die Liebe auf sich selbst geschaffen hat. Dichten Sie, ja, dichten Sie. Aber dichten Sie nur durch den Klang Ihrer Stimme, durch die Macht Ihres Blickes, durch die anmutsvollen Bewegungen Ihrer Hände, durch das verlockende Lächeln Ihres Mundes!“
Ihr Gesicht war jetzt plötzlich ein ganz anderes geworden. Es erstrahlte in Glück und Freude.
„Sagen Sie die Wahrheit?“ fragte sie, indem ihr Atem ihm heiß und würzig entgegenströmte. „Ist das wirklich Ihre Meinung? Bin ich in Wahrheit ein solches Gedicht?“
„In Wahrheit!“ antwortete er.
„Oh, dann bin ich glücklich! Bin ich ein Gedicht, so muß mich der Dichter lieben! Er muß mein werden, und ich bin sein!“
Sie umschlang ihn so eng, daß er sich kaum zu bewegen vermochte. Er fühlte die Formen ihres Körpers durch die durchsichtigen Hüllen hindurch. Ihre Küsse brannten auf seinen Lippen. Er konnte nicht widerstehen. Das glühende Mädchen war für diesen Augenblick seine Herrin geworden.
Er mußte neben ihr sitzen; er mußte ihren Wein, ihre Blicke, ihre Küsse, ihre Worte trinken. Er wurde von ihnen berauscht; es kam eine Art von Taumel über ihn, so daß es ihm war, als ob er sich im Traum befinde. Er erschrak förmlich, als die alte Dienerin eintrat und meldete, daß zwölf Uhr nahe
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