60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Gräber und Herzen zu öffnen. Der Chor wird vollständig erscheinen. Keiner darf fehlen!“
Er drückte Matthesius salbungsvoll die Hand und ging. –
Sämtliche Bewohner der Residenz hatten gehört und gelesen, was geschehen war. Alle wußten, daß der alte Bertram, den der gewaltsame Tod so plötzlich darnieder geworfen hatte, heute begraben werden sollte und daß dabei seine hinterlassenen Kinder am Sarg stehen würden. So war es also kein Wunder, daß bei einem Begräbnisse noch niemals so viele Menschen anwesend gewesen waren als heute. Der Friedhof vermochte sie, trotz der Kälte, welche herrschte, kaum zu fassen.
Natürlich gab es keinen Leichenzug, da der Tote sich bereits in der auf dem Gottesacker befindlichen Leichenhalle befand. Die Polizei hielt auf Ordnung. Gerichtsbeamte stiegen aus, mit ihnen Robert und Marie. Beide wurden geführt, Marie aber mußte beinahe getragen werden. Die kleinen Geschwister waren aus dem Waisenhaus herbeigebracht worden. Sie warteten bereits am offenen Grab.
Nun wurde der Sarg geholt, über die Öffnung des Grabes gestellt und dann des Deckels entledigt. Die Kleinen, welche den toten Vater erkannten, fingen sofort zu weinen an. Robert stand dabei, ohne die Augen zu erheben. Marie war tränenlos und mußte gehalten werden, wendete aber keinen Blick von dem Toten.
Da trat der Pfarrer herbei, die Adjuvanten und Kurrende folgten ihm. Der erstere gab das Zeichen und die letzteren begannen:
„O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß vor großer Traurigkeit
Nicht, wo ich mich hinwende.
Mein ganz erschrocknes Herz erbebt
Daß mir die Zung am Gaumen klebt!“
Der Chor schwieg. Der Pfarrer begann mit dem evangelischen Gruß und verlas dann Namen, Stand, Geburts- und Sterbetag und Alter des Toten. Die Hörer glaubten, daß jetzt die Rede beginnen werde. Es geschah noch nicht. Robert und Marie wurden bis hart an den Sarg geführt. Der erstere ließ es ganz teilnahmslos geschehen, die letztere aber brach in die Knie. Doch hörte man sie weder sprechen noch weinen oder schluchzen.
Da gab der Geistliche abermals das Zeichen und der Chor sang:
„O Ewigkeit, du machst mir bang!
O ewig, ewig ist so lang,
Da gilt fürwahr kein Scherzen!
Drum, wenn ich diese lange Nacht
Zusammt der großen Pein betracht,
Erschreck ich recht von Herzen,
Nichts ist zu finden weit und breit
So schrecklich wie die Ewigkeit!“
Jetzt nun begann der Pfarrer. Er war ein tüchtiger Redner, und er sprach mit Begeisterung für den Zweck, den er verfolgte. Sein Text war wohl sehr kräftig gewählt, und seine Rede zeigte ganz dieselbe Eigenschaft, aber das wurde hier nicht abgewogen.
Seine Rede wirkte geradezu erschütternd. Aus hundert Augen flossen Tränen, und auf allen Seiten hörte man nicht ganz verhaltenes Schluchzen. Nur die beiden, auf welche es ganz besonders abgesehen war, weinten nicht: Robert und Marie.
Die Rede wurde beendet. Noch lag Marie auf den Knien, aber mit trockenen Augen, und ihr Bruder stand dabei, unberührt von dem, was bei und um ihn geschah.
Der Pfarrer blickte den Gerichtsdirektor fragend an. Dieser nickte leise und sofort begann der Chor von neuem:
„Solang ein Gott im Himmel lebt
Und über allen Wolken schwebt,
Wird solche Marter währen:
Es wird sie plagen Kalt und Hitz,
Angst, Hunger, Schrecken, Feu'r und Blitz,
Und sie doch nicht verzehren.
Nur dann kann enden diese Pein,
Wenn Gott nicht mehr wird ewig sein!“
Jetzt wurde der Segen über die Leiche gesprochen, langsam und feierlich, daß er zu aller Herzen ging. Dann folgte noch der Vers:
„Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf,
Ermuntre dich, verlornes Schaf,
Und bessre bald dein Leben!
Wach auf! Es ist doch hohe Zeit
Es kommt heran die Ewigkeit,
Dir deinen Lohn zu geben!
Vielleicht ist heut dein letzter Tag!
Kein Mensch weiß, wann er sterben mag!“
Während dieses Gesanges sollte der Sarg geschlossen und in die Grube gesenkt werden. Man ergriff den Deckel. Da aber ertönte ein lauter, schriller Schrei, so laut und schrill, daß er selbst den Gesang durchdrang. Marie hatte ihn ausgestoßen. Sie raffte sich mit aller Gewalt, deren sie noch fähig war, empor.
„Vater! Mein Vater – Vater – Va –“
So ertönte es in markerschütterndem Ton. Sie konnte das Wort nicht zum vierten Mal aussprechen, sie brach zusammen. Man schaffte sie augenblicklich nach der Droschke.
Nun rasselte der Sarg zur Tiefe. Kein Mensch warf ihm eine
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