60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
halten. Ich bemitleide Sie und ihn.“
„Dank, Dank für dieses Wort! Darum aber auch Gnade für ihn, Gnade, Majestät!“
„Glauben Sie, daß er um Gnade nachsuchen werde? Haben Sie die Worte seines Vaters vernommen, dieses braven, biederen Mannes, welcher seinen Sohn lieber unter dem Schwert sehen, als unter dem Joch der Gnade sich beugen lassen will?“
„Kann er den Tod erzwingen? Steht die Milde Eurer Majestät nicht über der Strenge des Gesetzes?“
Der Monarch schüttelte langsam den Kopf und antwortete:
„Ein Ehrenmann wird tausendmal lieber sterben, als Züchtling sein wollen. Aber gehen Sie, Ihre Bitte soll und darf keine vergebliche sein. Sie sind es nicht allein, welche Sympathie für den Verurteilten hegt. Sein Blut wird nicht vergossen werden!“
Er wendete sich ab und verließ den Saal. Sie erhob sich und wankte fort nach ihrem Wagen. Das Verhalten des Königs hatte sie hart getroffen, vielleicht ebenso hart wie die Ereignisse der letzten Zeit. Er, der sonst so gnädige, hatte sie knien lassen und, wenn auch ihr Verhalten nicht geradezu getadelt, so doch sich über dasselbe verstimmt gezeigt. Und dann war er ohne Abschied von ihr gegangen! Hatte sie das wirklich verdient? War nicht gerade der Umstand, daß sie, von der Verhandlung weg, um die Gnade des Königs nachgesucht hatte, der beste und sicherste Beweis, welche Sympathie sie trotz allem für den Milchbruder fühlte? Hätte sie wirklich gegen ihr Gewissen sprechen können?
Solche Fragen legte sie sich vor, als sie in ihrem Hotel angekommen war. Sie mußte die Nacht über hier bleiben, da sie mit dem Abendzug nicht bis zur Heimat gelangen konnte. Die anderen Zeugen hatten einen Zug benutzen können, welchen sie infolge ihrer Audienz beim König versäumen mußte.
Sie verbrachte eine außerordentlich unruhige Nacht. Der Schlaf floh ihre Augen, und Vorwürfe tauchten gespensterhaft vor ihr auf. Wie gut, wie edel war Gustav stets gewesen! Wie mutig hatte er noch am letzten Tag vor dem Doppelmord gehandelt, und mit welcher Nachsicht und Selbstbeherrschung war er ihrem Vater entgegengetreten. Konnte er wirklich so rachsüchtig, so gottlos sein? Tausend Stimmen in ihrem Innern antworteten mit Nein. Diese Stimmen hatten bisher geschwiegen, weil sie nicht gefragt worden waren. Ja, sie war schuld an allem! Sie hatte ihn einen Mörder genannt und war feig in Ohnmacht gefallen. Anstatt dessen hätte sie sich an seine Seite stellen sollen, um ihn mutig zu verteidigen. Sie hätte sich sagen sollen, daß während der Zeit, als sie von ihm ging und wiederkehrte, sich wirklich ein anderer seines Gewehrs bemächtigen konnte, um den Hauptmann niederzuschießen und ihn dann als Mörder zu bezeichnen. Jetzt traten alle Argumente des Verteidigers vor ihre Seele; es war ihr, als ob sie plötzlich hellsehend geworden sei. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und rief in jammerndem Ton:
„Ja, Gustav, du bist unschuldig! Und ich bin es, ich, die dich in das Elend gestürzt hat! Kein Gott kann mir verzeihen!“
Sie beschloß, mit dem ersten Morgenzug nach Helfenstein zurückzukehren, um dem Förster ihre Schuld zu bekennen und mit ihm zu beraten, wie sein Sohn noch gerettet werden könne. Sie telegraphierte nach Hause nach einem Geschirr, welches sie vom Bahnhof der Amtsstadt abholen sollte, und stieg dann in das Coupé.
Sie hatte erste Klasse genommen; sie saß ganz allein. Sie blickte nicht hinaus nach den Landschaften, welche der Zug durcheilte, sie hörte nicht auf das, was man sich auf den Bahnhöfen und Anhaltestellen zurief. Allüberall war von dem Brand von Schloß Hirschenau die Rede. Sie war aber so sehr in ihr eigenes Innere versunken, daß sie für alles außer ihr liegende kein Ohr, kein Hören und Verstehen hatte.
Endlich war sie angelangt. Halb wie im Traum hörte sie den Namen der Station nennen. Ihr Diener war aus seiner zweiten Klasse herbeigeeilt, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Er hatte mehr gehört als sie; er wußte, was geschehen war, und blickte sie mit sichtbarer Besorgnis an. Sie bemerkte dies.
„Was ist's?“ fragte sie. „Was hast du?“
„Gnädiges Fräulein, haben Sie denn noch nichts gehört?“ antwortete er.
„Gehört? Nein. Wovon? Was meinst du denn?“
Er wurde sehr verlegen, zögerte eine Weile und sagte dann:
„Es ist etwas Unerwartetes geschehen, etwas, was man sogar unangenehm, sehr unangenehm nennen – ah, da kommt einer, der es Ihnen jedenfalls besser sagen kann, als ich.“
Er trat
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