60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Er darf dich nicht sehen. Sobald du den Zug kommen hörst, legst du einen solchen Stein auf die Schienen.“
„Donnerwetter! Soll der Zug verunglücken?“
„Beileibe nicht! Die Bahn ist hinter der Kurve so schnurgerade, daß der Maschinist den Stein zur rechten Zeit sehen wird und also halten kann. Das ist es grad, was ich will.“
„Ah so! Ich verstehe! Du willst mitten im Wald mit ihm abspringen?“
„Ja. Habe ich ihn einmal zwischen den Bäumen, dann soll ihn kein Mensch ergreifen. Dafür stehe ich ein.“
„Wie ist meine Instruktion weiter?“
„Ich mache dir ein Paket zusammen. Das nimmst du mit und verbirgst es am Dachsberg, welcher nur eine halbe Stunde weit von jener Kurve entfernt liegt. An der Seite des Dachsbergs steht eine riesige Eiche, welche du kennen wirst?“
„Oh, sehr gut!“
„Bei ihr treffen wir zusammen. Das Paket enthält Kleidungsstücke und allerlei anderes für Brandt, wodurch wir ihn unkenntlich machen werden.“
„Und dann?“
„Das wird sich erst finden, wenn wir wissen, was Brandt zu tun beschließt.“
„Ich denke, daß er vor allen Dingen seine Eltern sehen will, um von ihnen Abschied zu nehmen.“
„Das befürchte ich auch. Wir müssen uns also vorsehen. Die Hauptsache bei allem ist, daß du, nachdem du die Kleider versteckt hast, auf deinem Posten bist. Fehlst du zur geeigneten Zeit, so kann alles verloren sein, und der arme Teufel muß in das Zuchthaus.“
„Natürlich werde ich da sein, und wenn es mir das Leben kosten soll. Natürlich tragen auch wir beide falsches Haar und falschen Bart?“
„Das versteht sich ganz von selbst. Ich ziehe mich als Viehhändler an, mit der Geldkatze um den Leib und der Peitsche über der Achsel.“
„Wie aber willst du in sein Coupé kommen?“
„Das laß nur meine Sorge sein. Ich sitze bereits von der Residenz aus in dem Zug. Ich muß wissen, in welchem Coupé er sitzt, und wenn ich erst unterwegs einsteige, ist es fast unmöglich, dies zu erfahren, ohne daß es auffällt. Diese Karte der Bahn steckst du zu dir, damit du dich orientieren kannst.“ –
Am andern Abend trat ein Herr in das Gastzimmer eines Fremdenhauses der Residenz. Er war nicht nobel aber auch nicht schlecht gekleidet, hatte eine dicke Geldkatze um die Hüften geschnallt und eine biegsame Peitsche quer über die Achsel nach unten gebunden. Er verlangte eine Flasche Wein, aß gut und viel, bezahlte mit einem Dukaten, gab ein gutes Trinkgeld und fragte dann, ob er für diese Nacht ein Zimmer bekommen könne.
Solche Gäste pflegen die Wirte sehr gern zu sehen. Seine Frage wurde also sofort bejahend beantwortet. Er vertiefte sich einige Zeitlang in die Zeitung und ging dann schlafen, nachdem er seinen Namen und seinen Stand eingetragen hatte. Der letztere lautete: Viehhändler. Droben im Zimmer ordnete er an, daß man ihn früh wecken solle, weil er bereits kurz nach fünf Uhr auf dem Bahnhof sein müsse.
Am anderen Morgen lag das Zellenhaus des Gerichtspalastes in schwarzer Finsternis. Nur im Mittelteil des Gebäudes brannte eine Lampe. Kaum aber hatte es fünf Uhr geschlagen, so wurde es in den langen, schmalen Korridoren licht und lebendig. Die Wärter und Schließer eilten von Zelle zu Zelle, um die Türen zu öffnen, den Kaffee oder die magere Morgensuppe zu verteilen und dann die Riegel wieder vorzuschieben.
Die Zellen blieben von jetzt an wieder verschlossen. Nur eine einzige wurde bereits nach fünf Minuten wieder geöffnet. Der Wachtmeister selbst war es, welcher dies tat. Es war finster im Innern, und nur der Schein, welcher von außen hineinfiel, erlaubte, eine männliche Gestalt zu erkennen, welche auf der Bank saß und den dünnen Kaffee aus einer niedrigen Blechschüssel trank.
„Guten Morgen, Herr Brandt!“ grüßte der Beamte.
Das war eine sehr seltene Bevorzugung.
„Guten Morgen, Herr Wachtmeister“, lautete die Antwort.
Der Gefangene gab dieselbe, indem er sich höflich erhob und der Türe näherte.
„Wann werden Sie mit dem Kaffee fertig sein?“
„Nur noch einen Schluck.“
„Na, so eilig ist es nicht. Aber halten Sie sich bereit, in einer Viertelstunde in meine Expedition zu kommen!“
„So früh? Liegt vielleicht etwas Neues, Unerwartetes vor?“
„Allerdings!“
„Was meiner Angelegenheit eine andere Wendung geben wird?“
„Ja.“
„Eine bessere?“
„Ich freue mich, Ihnen das bestätigen zu können.“
„Gott sei Dank! Endlich, nachdem bereits das Todesurteil gefällt ist, scheint die Vorsehung
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