60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Helfenstein? Was für eine Absicht hatte ihn herbeigeführt? Der obere Teil des Gesichts war allerdings demjenigen des Schmieds ähnlich, aber die andere Hälfte wurde von einem langen, starken Vollbart verdeckt, während Wolf keinen Bart trug. Auch das Haar dieses Viehhändlers war lang, während der Schmied das seinige ganz kurz abgeschoren zu tragen pflegte.
Ein Kennzeichen aber gab es doch. Brandt erinnerte sich aus seiner Jugendzeit, daß der Schmied sich einst mit dem großen Schlaghammer auf den Daumen getroffen habe. Der Finger war so verstümmelt gewesen, daß der Nagel verlorenging, ohne durch einen Neuwuchs ersetzt zu werden. Er blickte nach der Hand des Viehhändlers, ja, dort am rechten Daumen fehlte der Nagel – er war es!
Warum aber diese Verkleidung? Wollte er ihn retten? Seine Seele jauchzte auf. Er machte einen Versuch, es zu erfahren, indem er in einem unbeobachteten Augenblick mit dem Kopf nach dem Fenster nickte. Der Schmied nickte zustimmend und ballte die Faust. Das war genug gesagt.
Was aber hatte ihn veranlaßt, ein solches Abenteuer zu unternehmen? So fragte sich Brandt. Er hatte wohl öfters davon sprechen hören, daß Wolf vielleicht ein Schmuggler sei. Das aber konnte doch nicht die Veranlassung dazu sein, grad denjenigen zu befreien, welcher damals die großartige Pascherei gestört und so wertvolle Güter konfisziert hatte.
Da fuhr der Zug in Brandenau ein. Als er diese Station verließ, setzte sich der Wachtmeister zu Brandt auf die gegenüberliegende Bank.
„Warum dorthin?“ fragte der Schmied.
„Ich muß neben meinem Gefangenen sitzen, um ihn an der Hand zu haben. Er will entweichen, und wir werden sogleich an den Tunnel kommen. Wollen Sie mir nicht die Gefälligkeit erweisen, sich an seine andere Seite zu setzen!“
Da stieß der Schmied ein lustiges Lachen aus und antwortete:
„Haben Sie mich zum Gesellschafter gewählt, damit ich Ihnen helfen soll, den Gefangenen zu bewachen?“
„Ja. Ich will es eingestehen.“
„Hm! Aber haben Sie denn für den Fall der Not gar keine Waffe bei sich?“
„Nein.“
„Welch eine Unvorsichtigkeit, dies zu unterlassen und es auch einzugestehen. Sehen Sie, da bin ich vorsichtiger!“
Er griff in die Tasche und zog ein geladenes Doppelterzerol hervor.
„Das ist gut! Nun kann er nichts anfangen!“ meinte erfreut der Wachtmeister.
„Ja, das ist wahr! So ein Terzerol ist nicht nur vortrefflich zum Schießen, sondern auch vortrefflich zum Schlagen. Sehen Sie, ungefähr so!“
Er nahm die Läufe in die Hand und schlug den Kolben dem Beamten, ehe dieser es sich versah, in der Weise gegen die Schläfe, daß der Getroffene sofort besinnungslos in die Ecke des Sitzes sank.
„So!“ sagte er. „Dem ist einstweilen geholfen. Aber vor allen Dingen, bitte, mein Lieber, keinen Namen nennen. Das erste, was zu tun ist, wir müssen Ihnen diese verdammten Handschellen abnehmen. Der Kerl wird den Schlüssel dazu wohl in der Tasche haben. Suchen wir!“
Er durchsuchte die Taschen des Besinnungslosen und fand den Schlüssel, der sehr klein war, im Portemonnaie. Er nahm den ersteren und steckte das letztere unversehrt wieder in die Tasche zurück.
„Zunächst auch weg mit der Leine! So!“ sagte er. „Und nun geben Sie Ihre Hände her!“
Brandt folgte der Aufforderung und war in einigen Sekunden wieder im freien Besitz seiner Arme und Hände. Er wollte sprechen, aber die innere Aufregung machte ihm jedes Wort zur Unmöglichkeit. Der Schmied aber befand sich ganz in seinem Element.
„Kommen Sie!“ lachte er. „Jetzt wollen wir diesem guten Mann die Handschellen anlegen, damit er auch einmal merkt, wie hübsch ein solcher Schmuck ist. Helfen Sie!“
Brandt gehorchte ihm. Dann zog der Schmied das Taschentuch des Gefesselten hervor, steckte es ihm als Knebel in den Mund und band ihm dann auch die Ellenbogen nach hinten und die Knie und die Fußknöchel mit der Leine zusammen.
„So!“ sagte er darauf. „Gerade zur rechten Zeit, denn da kommt der Tunnel!“
Sie brausten in die Finsternis hinein. Als sie wieder an das Tageslicht kamen, hatte Brandt endlich Worte gefunden.
„Aber sagen Sie mir, um Gottes willen“, fragte er, „was veranlaßt Sie denn, sich meiner in dieser Weise anzunehmen?“
„Still! Darüber jetzt kein Wort! In fünf Minuten wird der Zug anhalten, dann müssen wir ausspringen. Wir rennen gerade in den Wald hinein, Sie immer scharf hinter mir her. Aber nehmen Sie sich in acht, daß sie nicht stürzen oder gar
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