60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
sich meiner erbarmen zu wollen. Ich darf wohl nicht fragen, welcher Natur dies unerwartete Ereignis ist?“
„Sie wissen, daß Schweigen leider allzusehr meine Pflicht ist. Nur das kann ich Ihnen sagen, daß wir eine kleine Reise unternehmen werden.“
„Nach meiner Heimat? Nach dem Ort des Verbrechens?“
„Auch hierüber muß ich schweigen.“
„Ah, ich ahne dennoch, daß es sich um eine Rekognition handelt, vielleicht um eine Wiederaufnahme der Untersuchung. – Gott sei gelobt!“
Der Wachtmeister ging. Er war ein harter Mann, aber die Täuschung, welcher sich der Gefangene hingab, flößte ihm doch einiges Mitleid ein. Als der Gefangene nach der angegebenen Zeit zu ihm gebracht wurde, stand er, ihn reisefertig erwartend, in seiner Expedition.
„Herr Brandt“, sagte er. „Sie wissen, daß Sie zum Tode verurteilt sind –“
„Leider weiß ich das nur allzu gut!“ antwortete der Unglückliche.
„Sie kennen wohl auch die Strenge meiner Verpflichtung. Sehen Sie her! Es tut mir leid, aber ich kann es nicht ändern!“
Er brachte ein Paar Handschellen zum Vorschein. Über das Gesicht Brandts flog eine schnelle Röte. Seine Augen leuchteten zornig auf, doch mäßigte er sich und sagte in höflichem Ton:
„Können Sie mir diese Demütigung wirklich nicht erlassen?“
„Nein. Ich bin instruiert, sie zu fesseln.“
„Aber ich werde Ihnen nicht entschlüpfen!“
„Ich habe mich auf alle Fälle sicher zu stellen!“
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, mein heiliges Ehrenwort, daß ich Ihnen nachlaufen werde wie ein Hund.“
„Ich kann nicht; ich darf nicht!“
„Herr Wachtmeister, Sie wissen, daß ich hier in der Residenz angestellt war, daß viele, sehr viele mich kennen. Welch eine Demütigung für mich, wenn man auf dem Bahnhof mit Fingern auf mich zeigt.“
„Wir werden uns so setzen oder stellen, daß man uns gar nicht bemerken wird.“
„Und diejenigen, welche mit in dem Coupé sitzen!“
„Als Transporteur eines Gefangenen habe ich nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, ein Einzelcoupé zu verlangen!“
„Also ist es Ihnen auf alle Fälle unmöglich, mich von den Fesseln zu dispensieren?“
„Ja. Selbst wenn meine Extrainstruktion nicht so lautete, würde ich Sie fesseln; ich bin es so gewöhnt, ich bin stets vorsichtig!“
„Dann haben Sie weder ein Herz noch ein Gefühl für Ehre und Ehrenwort! Die Freundlichkeit, die Sie mir bisher gezeigt haben, ist nur Schein gewesen. Sie haben, um sich und Ihren Schergen den Dienst zu erleichtern, mich, den Mörder, den gefährlichen Menschen, bei guter Stimmung erhalten wollen –!“
„Oho!“ fiel da der Wachtmeister ein. „Sind Sie der Vorgesetzte hier, oder bin ich es?“
„Keiner von uns beiden ist es. Sie stehen nicht über mir, und ich nicht unter Ihnen. Ich befinde mich nur in Ihrer Obhut, und Sie haben mich zu bewachen. So ist unser Verhältnis.“
„Ja, so ist es allerdings! Und ich werde Sie streng, sehr streng bewachen, darauf können Sie sich verlassen. Her mit den Händen!“
Brandt streckte ihm, im höchsten Grad aufgebracht, die Hände entgegen und sagte:
„Hier sind sie! Nun ich sehe, daß alle Ihre Freundlichkeit nur Falschheit war, daher glaube ich auch nicht, was Sie mir heute oben in meiner Zelle sagten. Die Veränderung, welche meine Lage erleiden soll, ist jedenfalls keine gute. Entweder werde ich jetzt auf das Schafott geführt oder nach dem Zuchthaus, zu welchem man mich ohne meine Einwilligung begnadigt haben mag. In beiden Fällen erhebe ich Ein- und Widerspruch. In beiden Fällen werde ich den äußersten Widerstand leisten!“
„Versuchen Sie es!“ meinte der Beamte höhnisch, indem er die Hände des Gefangenen mit den Eisenringen umschloß.
Brandt warf den Kopf empor wie ein Löwe, welcher gereizt wird, und sagte mit erhobener Stimme:
„Ich gab Ihnen mein Ehrenwort, Ihnen zu folgen wie ein Hund seinem Herrn. Nun Sie mein Ehrenwort zurückgewiesen haben und mich wie ein wildes Tier der Bewegung berauben, sage ich Ihnen mit aller Aufrichtigkeit, daß ich Ihnen entspringen werde, wo und sobald sich mir die Gelegenheit dazu bietet!“
„Sie werden damit nichts anderes erreichen als nur eine Verschlimmerung Ihrer Lage. Wir sind fertig. Kommen Sie!“
Sie traten den Weg nach dem Bahnhof an. Dort angekommen, löste der Wachtmeister die Billets mit so leiser Stimme, daß der Gefangene das Ziel der Reise unmöglich verstehen konnte.
Der Beamte zog es vor, sich mit seinem Mann an
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