60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
scheinen.
Drum schließe deine Augen zu,
Worin die Tränen glühn;
Ja, meine wilde Rose, du
Sollst nicht im Wald verblühn!“
War der Text, den er bei ihrer ausgezeichneten Aussprache Wort für Wort genau verstehen konnte, schon an sich in Beziehung sowohl auf Gedankeninhalt als auch auf den Ausdruck ein dichterisches Meisterwerk, so fühlte sich der Fürst am Schluß des Vortrages von der innigen, seelenvollen und doch resoluten Komposition tief ergriffen. Fanny von Hellenbach hatte eine tiefe, kräftige Altstimme, welcher aber doch die Wiedergabe kontemplativer Gefühle geläufig war. Ihre Stimme war der Vox humana der Orgel ähnlich, wenn sie vollständig rein und ohne jenes Streichen getroffen ist, welches die Viola di Gamba in höherem Maße zu besitzen pflegt.
Sie wies den stürmischen Applaus durch eine Verbeugung von sich ab und zog sich dann nach einem Weilchen in ein Nebenzimmer zurück.
Diese Fanny war ein Mädchen von seltenen und ebenso glänzenden Eigenschaften. Der Fürst fühlte das Verlangen, sie kennenzulernen, erhob sich von seinem einsamen Platz und folgte ihr, was bei der Versammlung nicht wenig Erregung hervorrief.
Sie stand an einem Fenster und blickte durch die von der Wärme des Zimmers abgetauten Scheiben in die schneehelle Nacht hinaus. Dieses Fenster ging nach hinten in den Hof. Hinter dem letzteren schien ein Garten zu liegen, und dann stiegen hohe Häuser, welche zur Wasserstraße gehörten, dunkel empor, die weitere Aussicht verschließend.
Als sie Schritte hinter sich vernahm und, sich herumdrehend, den Fürsten erblickte, errötete sie, ein wenig vor Freude und auch ein wenig vor Bangigkeit. Daß er, der sich von den anderen zurückgezogen hatte, in so auffälliger Weise sie aufsuchte, war ohne Zweifel eine Auszeichnung für sie. Aber würde sie mit ihren gesellschaftlichen Kenntnissen und Erfahrungen auch vor ihm bestehen können?
So fragte sie sich.
Der Fürst war ein wunderbar schöner Mann. Er konnte nicht viel über vierzig Jahre zählen. Man wußte, daß er aus Ostindien kam, doch war sein Teint keineswegs gebräunt, sondern im Gegenteil von einer Weiße und Reinheit, als ob er stets im Norden Europas gelebt habe. Sein Haar war tiefdunkel und voll, sein Bart ebenso. Sein Gesicht zeigte zwei Narben. Die eine ging quer über die Stirn und Nasenwurzel hinweg, und die andere kam vom rechten Ohre herab, ging über die Wange und verlief sich in dem stattlichen Schnurrbart, den er sicherlich mit keinem anderen vertauscht hätte. Eigentümlicherweise wurde das Gesicht durch diese beiden Narben keineswegs verunziert; sie gaben demselben im Gegenteil einen männlich unternehmenden Charakter und jenes eigentümliche, undefinierbare Etwas, welches den Frauenherzen so gefährlich ist. Er trug eine einfache, aber feine Gesellschaftstoilette, ganz ohne alles Überladene, aber der einzige Ring, den man an seinen Händen bemerkte, zeigte einen Solitär, welcher sicherlich den Wert von einer halben Million hatte.
„Wie würde er beginnen, und wie würde sie zu antworten haben?“ fragte sie sich. Aber ohne alle gesellschaftlichen Floskeln sagte er einfach:
„Ich bin Freund der Dicht- und Tonkunst, mein Fräulein. Noch nie hörte ich das von Ihnen vorgetragene Lied. Darf ich mich erkundigen, von wem es ist?“
Da befand sie sich ja mit einem Mal in ihrem liebsten und bekanntesten Fahrwasser.
„Das Lied, das heißt der Text ist von Hadschi Omanah, Durchlaucht“, antwortete sie.
„Hadschi Omanah? Das ist ein mohammedanischer Geschichtsschreiber, welcher im sechzehnten Jahrhundert lebte. Einen zweiten dieses Namens kenne ich nicht, und doch kann es unmöglich dieser sein.“
„Vielleicht ein Pseudonym?“
„Das ist möglich, sogar wahrscheinlich. Und der Komponist, meine Gnädige?“
Sie errötete ein wenig, indem sie antwortete:
„Der Komponist spricht mit Ihnen, Durchlaucht.“
„Wie? Ist's möglich! Sie haben dieses Lied in Musik gesetzt?“
„Ich habe es gewagt!“
„Ja, es ist allerdings ein Wagnis! Ein Lied oder zum Beispiel ein Salonstück für das Klavier zu komponieren, das ist ein sehr, sehr großer Unterschied. Sie haben Ihre Aufgabe vortrefflich gelöst, mein Fräulein. Und das konnten Sie bloß, weil Sie ein vortreffliches Herz besitzen. Ein herz- und seelenloser Mensch wird nie ein Lied komponieren können.“
Das war gar nicht die auffällige, aufdringliche Weise, in welcher andere ihr Beifall zu spenden pflegten. Er sprach so einfach, und doch hörte
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