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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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man es, daß er ganz anders hätte sprechen können. Er sprach wie ein Bruder zur Schwester, ohne allen rednerischen Schmuck, ohne alle Verzierung. Seine Stimme hatte einen eindringlich herzlichen Klang. Seine Sprache hatte zwar etwas Fremdartiges, aber er war des Deutschen ganz und gar mächtig. Sie fühlte sich ganz herrlich zu diesem Mann hingezogen.
    „Wie schade, daß ich nun die Komponistin und Sängerin, nicht aber den Dichter kenne“, fügte er hinzu.
    „Ist Ihnen sein Buch nie in die Hand gekommen, Durchlaucht?“
    „Niemals.“
    „Hier liegt es sogar.“
    Sie trat an ein Tischchen, auf welchem mehrere Albums lagen, und nahm von dort den bekannten Saffianband mit der Aufschrift ‚Heimats-, Tropen- und Wüstenbilder‘. Sie reichte ihm das Buch dar. Während der darinnen leicht blätterte, bemerkte sie:
    „Eigentümlich, daß Ihr Name darin vorkommt!“
    „Mein Name? Ah, das wäre allerdings eigentümlich!“
    „Ja. Als wir zum ersten Mal hörten, daß ein Fürst von Befour hier angekommen sei, schlugen wir alle Hof- und Adelskalender nach – vergebens. Sie wissen, Durchlaucht, Damen sind stets wißbegierig. Um so mehr verstimmt wurden wir, als auch in keinem Lexikon dieses Wort zu finden ist.“
    „Waren auch Sie verstimmt?“
    „Ein wenig, ja“, antwortete sie unter einem reizenden Lächeln. „Da las ich das unvergleichlich schöne, ja, das großartige Bild der tropischen Nacht und – da fand ich das Wort Befour.“
    „Wirklich? Das ist für mich von hohem Interesse. Sollte der Dichter wirklich ein Orientale sein!“
    „Nein. Ein Orientale dichtet nicht deutsch.“
    „Richtig! Und hätten wir eine Übertragung vor uns, so würde der Name des Übersetzers genannt worden sein. Wo steht das betreffende Gedicht?“
    „Darf ich es Ihnen aufschlagen und vorlesen, Durchlaucht? Es ist mir nämlich das beste und liebste der ganzen Sammlung.“
    „Bitte, tun Sie es!“
    Sie suchte die Seite, trat einige Schritte zurück und deklamierte lesend, das Buch in der Linken:
    „Wenn um die Berge von Befour
Des Abends erste Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
Hervor aus unterird'schen Hallen
Und ihres Diadems Azur
Erglänzt von funkelnden Kristallen.
In ihren dunklen Locken blüh'n
Der Erde düftereiche Lieder,
Aus ungemessnen Fernen glüh'n
Des Kreuzes Funken auf sie nieder,
Und traumbewegte Wogen sprüh'n
Der Sterne goldne Opfer nieder.
Und bricht der junge Tag heran,
Die Tausendäugige zu finden,
Läßt sie das leuchtende Gespann
Sich durch purpurne Tore winden,
Sein Angesicht zu schau'n und dann
Im fernen Westen zu verschwinden.“
    Ihre Deklamation hatte einen wunderbaren Eindruck auf den Fürsten gemacht. Sie hatte vor ihm gestanden in der Haltung einer Göttin, den einen Fuß auf dem Teppich und den anderen auf dem niedrigen Sitz eines Ruhestuhls, neben welchem sie stand. Mit beiden Händen den Text in künstlerisch abgerundeten Gesten begleitend, hatte sie ihre schönen, vollen bis zur Schulter entblößten Arme erhoben. Ihre ganze Gestalt, ihre enge Taille, ihr vollendeter Busen, ihr schlanker Hals, das feine und doch so volle Profil hob sich in dieser Körperstellung in unvergleichlicher Plastik hervor. Dazu das dichte, hochaufgetürmte, dunkle, kurzgelockte Haar, der feurige Blick ihrer Augen und der tiefe, kräftige, metallische Klang ihrer Stimme. Sie war schön, wunderbar schön in diesem Augenblick.
    „Fräulein“, sagte er, als sie geendet hatte, „wie ist dieses Gedicht überschrieben?“
    „Die Nacht der Tropen.“
    „Wohnte der Dichter hier, hätte er Sie gesehen, so wollte ich darauf schwören, daß er Sie zum Modell genommen hat. Sie waren in diesem Augenblick die Personifikation der südlichen Nacht. Sie und das Gedicht waren eins.“
    „Ich danke!“ lächelte sie. „Was sagen Sie zu diesem Dichter?“
    „Diese ‚Nacht der Tropen‘ ist nicht zu erreichen. Solche Farben hat kein Maler, und solche Worte hätte keiner unserer Klassiker gefunden. Dieser Hadschi Omanah ist ein Genie. Ich muß erfahren, wer er ist, und wo er lebt.“
    Ihr Auge nahm einen eigentümlichen Glanz an. Es lag darin fast wie ein Licht, welches aus der Tiefe der Seele leuchtet.
    „Durchlaucht, ich liebe ihn!“ sagte sie.
    „Seine Gediente, aber nicht ihn.“
    „Auch ihn. Der Dichter ist so wie seine Werke. Und wäre dieser Hadschi Omanah arm wie ein Bettler und häßlich wie ein Äsop oder Satyr, so würde ich ihn lieben!“
    Sie wurde unterbrochen. Unter der Tür erschien die Baronin

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