600 Stunden aus Edwards Leben
mich an keinen Traum erinnern, und das ist ungefähr dasselbe.
Heute ist der fünfte Tag meines Lebens ohne meinen Vater, und mir geht es damit nicht mehr ganz so schlecht wie gestern oder vorgestern. Ich wünschte natürlich, er wäre hier, vor allem jetzt, da ich weiß, dass er sich nicht für mich schämt. Aber ich habe auch das Gefühl, dass alles gut wird. Ich kann dieses Gefühl nicht erklären. Es beruht nicht auf einer Tatsache, sondern eher auf einer Emotion. Ich bevorzuge Tatsachen, aber gegen diese Emotion habe ich nichts einzuwenden. Vielleicht hat Dr. Buckley irgendeine Idee dazu. Ich finde, Emotionen sind schwer zu erklären.
Vielleicht hat Dr. Buckley auch irgendeine Idee zu Donna Middleton, denn ich habe keine. Ich wünschte, ich hätte eine.
Schon bald werde ich es wissen. Gerade hat Dr. Buckley einen Mann aus ihrem Büro entlassen – den, mit dem ich letzte Woche zusammengestoßen bin – und signalisiert mir, ich könne hereinkommen.
Der Mann sieht mich böse an, als wir aneinander vorbeigehen.
»Es tut mir leid«, sage ich.
»Edward«, sagt Dr. Buckley und nimmt Platz. »Wie geht es Ihnen heute?«
»Es geht mir gut.«
»Das ist schön. Noch einmal mein herzliches Beileid zum Tod Ihres Vaters. Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Ich denke, sie wird es gut verkraften.«
»Und Sie?«
»Ich denke, ich werde es auch gut verkraften. Ich fühle mich … Also, das ist schwer zu beschreiben.«
»Versuchen Sie es.«
»Mein Vater hat mir einen Brief geschrieben. Sein Anwalt hat ihn mir gestern gegeben.«
»Oh?«
»Aber er ist nicht wie die anderen Briefe, die ich vom Anwalt erhalten habe. In diesem Brief schreibt mein Vater, dass er stolz auf mich ist und dass er mich liebt. Er entschuldigt sich bei mir. Ich … Dr. Buckley, möchten Sie den Brief gern lesen?«
»Wenn es Ihnen recht ist, Edward, würde ich das liebend gern.«
Ich lehne mich auf meinem Stuhl nach vorn, ziehe den gefalteten Brief aus der Hosentasche und gebe ihn ihr.
Bedächtig faltet Dr. Buckley den Brief auseinander und beginnt zu lesen, und ich bin nicht sicher, aber es sieht so aus, als bekäme sie feuchte Augen.
Als sie fertig ist mit Lesen, blickt sie noch eine Weile auf den wieder zusammengefalteten Brief in ihren Händen.
»Edward«, sagt sie schließlich, »das ist ein ganz außergewöhnlicher Brief.«
»Ja.«
»Ich habe Patienten, die ihr ganzes Leben darauf warten, so etwas von ihren Eltern zu hören … oder dem Ehepartner oder einem Kind.«
»Ja.«
»Sie sollten ihn an einem besonderen Ort aufbewahren. Tragen Sie ihn nicht zusammengefaltet in Ihrer Hosentasche.«
»Ja.«
Sie gibt mir den Brief zurück, und ich halte ihn behutsam fest.
»Wenn ich darf, glaube ich, dass ich Ihnen helfen kann, dieses Gefühl von Frieden zu verstehen, das Sie beschreiben, Edward.«
»Okay.«
»Zu der Zeit, als wir mit unseren Sitzungen begannen: Was waren da die Konstanten in Ihrem Leben?«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Jahre ändern sich, die Jahreszeiten, die Moden. Was ist gleich geblieben?«
»Ich sehe jeden Abend
Polizeibericht
.«
»Ja, das tun Sie, und seltsamerweise finde ich, dass es gut passt. Was noch?«
»Ich nehme mein Fluoxetin.«
»Ja. Was noch?«
»Ich beschwere mich über meinen Vater.«
»Ja. Aber es sind nicht nur Beschwerden. Sie sehnten sich nach der Anerkennung Ihres Vaters. Sie haben sich eine bessere Beziehung zu ihm gewünscht.«
»Ja. Aber jetzt ist er tot. Ich kann jetzt keine bessere Beziehung mehr zu ihm haben.«
»Da bin ich anderer Meinung. Ihr Vater hat Ihnen mit diesem Brief ein großes Geschenk gemacht. Durch ihn können Sie nach seinem Tod die Beziehung zu ihm haben, die Sie im Leben nicht hatten.«
»Wie kann man nach dem Tod eine Beziehung zu jemandem haben?«
»Es ist nicht die Art von Beziehung, an die Sie normalerweise denken. Sie werden nicht zusammen Kaffee trinken oder Gespräche führen. Es geht um Ihre Gefühle zu ihm – dass Sie nun schöne Erinnerungen an ihn haben können anstelle von traurigen. Wenn jemand Sie nach Ihrem Vater fragt, können Sie sagen, was für ein warmherziger, guter Mensch er war, und nicht, wie schlecht Sie sichmanchmal durch ihn fühlten. Das hat er ihnen geschenkt. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich denke, ja.«
»Sehen Sie es mal so: Wenn ich Sie frage, was Sie über Ihren Vater denken, was sagen Sie dann?«
»Ich vermisse ihn.«
»Warum vermissen Sie ihn?«
»Weil ich ihn liebe und weil ich weiß, dass er mich geliebt
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