600 Stunden aus Edwards Leben

geschafft.
    Lieber Edward,
    ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, dass Du ihn nie lesen musst. Wenn Du ihn liest, bedeutet es zum einen, dass ich tot bin. Zum anderen bedeutet es, dass ich in meinem Leben keine Chance hatte, das zu tun, was ich jetzt tue.
    Du bist als Mensch und als Sohn eine Herausforderung gewesen, Edward, und ich habe meine Rolle als Vater nicht immer mustergültig erfüllt. Ich habe nie richtig gewusst, wie ich mit Deiner Geisteskrankheit umgehen soll. Eine ganze Zeit lang habe ich versucht mir einzureden, ich hätte mein Bestes getan. Aber ich kenne die Wahrheit: Ich habe mir nicht genug Mühe gegeben. Als ich Dich im Jahr 2000 aus dem Haus schickte,tat ich das aus Wut und Verzweiflung – ich hatte das Gefühl, dass ich mit Deiner Krankheit überfordert bin und dass solche Sachen wie das Garth-Brooks-Debakel die Familie der Lächerlichkeit preisgeben. Ich war egoistisch, Edward. Ich habe nur an mich gedacht.
    Aber dann passierte etwas Wunderbares: Du hast Dich da in Deinem kleinen Haus an der Clark gut eingelebt, und Dr. Buckley hat große Fortschritte mit Dir erzielt. Ich war sehr glücklich darüber, aber ich war auch traurig, denn ich wusste, dass ich Dich aus dem Haus geworfen hatte und dass Du nicht mehr zurückkommen würdest. Du hättest es nicht mehr gewollt, und ich hätte nicht gewusst, wie ich Dich darum bitten sollte.
    Während es Dir also immer besser ging, wurde das Verhältnis zwischen uns beiden immer schlechter. Und ich will, dass Du eines weißt, Edward: Es ist nicht Deine Schuld. Es ist allein meine. Ich kann diesen Brief schreiben und das sagen in dem Wissen, dass Du ihn in nächster Zeit nicht lesen wirst, aber ich kann es nicht über mich bringen, Dir diese Worte im wahren Leben ins Gesicht zu sagen. Ich habe es versucht. Ich bin schwach. Ich werde es weiter versuchen. Es bricht mir das Herz bei der Vorstellung, dass Du das hier lesen musst.
    Edward, ich liebe Dich. Ich bin stolz auf Dich. Ich weiß, dass das Leben für Dich oft eine Herausforderung ist und Du es manchmal leichter findest, wenn Du Dich an einen Ort zurückziehst, an dem niemand auf Dich eindringen kann. Aber Du bist mir und deiner Mutter ein großes Geschenk gewesen. Du bist ein lieber, guter, anständiger Mann, und ich bin stolz, Dein Vater zu sein.
    Du bist die Sonne meines Lebens, Edward, wie es in dem Lied so schön heißt. Falls ich es Dir im Leben nie gesagt habe, so sage ich es jetzt.
    Ich liebe Dich, Sohn.
    Ted Stanton
    7. Juni 2006
    Um mich herum singen R.E.M., dass jeder mal verletzt ist. Ich kann nicht vom Parkplatz fahren. Ich kann nichts sehen.

    Um 13:08 Uhr bin ich zu Hause. Fast eine halbe Stunde lang habe ich auf dem Parkplatz gesessen und geweint und R.E.M. gehört und immer wieder den Brief meines Vaters gelesen. Ich krame im Kühlschrank, aber es ist kaum was zu essen da, weil ich alles weggeworfen habe – eine Entscheidung, die ich weiterhin bereue. Ich setze mich an den Küchentisch und gehe die überraschend umfangreiche (ich liebe das Wort »umfangreich«) Post durch, die ich bei meiner Rückkehr mit ins Haus gebracht habe.
    Es ist vor allem Werbung – und ein Päckchen von
Amazon.com
, was mich irritiert, bis mir einfällt, dass ich das Buch
Er steht einfach nicht auf dich
bestellt hatte, was ich jetzt kaum mehr gebrauchen kann. Ein Brief sticht mir ins Auge. Als Absender trägt er das Logo des
Billings Herald-Gleaner
.
    Ich reiße ihn auf.
    Lieber Edward,
    es hat mir sehr leidgetan, vom Ableben Deines Vaters zu erfahren. Er war ein guter Mann, und ich weiß, wie sehr Du ihm am Herzen lagst. Viele Menschen werden ihn vermissen.
    Ich will mich schon seit einer Weile bei Dir melden, aber irgendwie war viel zu tun. Als die Nachricht über Deinen Vater kam, beschloss ich, dass ich es nicht mehr länger hinausschieben sollte.
    Ich möchte Dich bitten, mich hier im
Billings Herald-Gleaner
anzurufen, damit wir eine Zeit vereinbaren können, um uns zu treffen. Du erreichst mich unter 657-1315. Ich habe letztes Jahr an der Schule aufgehört und hier einen Job als Technischer Leiter übernommen. Es ist ganz anders als das Unterrichten an der Highschool, aber bisher gefällt es mir gut.
    Ich denke, am besten können wir uns über meinen Wechsel unterhalten und was das mit Dir zu tun hat, wenn Du anrufst. Bitte tu es, Edward. Ich freue mich darauf, von Dir zu hören.
    Liebe Grüße,
    Nathan Withers
    Aufgeregt wähle ich die Nummer, die Mr Withers angegeben