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61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig

61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig

Titel: 61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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kaufen. Starb jemand, so wurde der Sarg beim Tischler bestellt, und dieser hatte sich zu sputen, um ihn bis zur Stunde des Begräbnisses fertigzubringen. Die Leiche lag auf einer Bank, zugedeckt mit einem Leinentuch.
    Beyer trat hinzu, zog die Bank dahin, wo der Schein des Mondes sich an der Mauer abzeichnete, und nahm das Tuch hinweg. Er fürchtete sich nicht vor dem hageren, ausgemergelten, eiskalten und steifen Körper, auch nicht vor den starren Zügen, welche ihm im Mondschein scharf entgegentraten.
    Er nahm die Tote in seine Arme, preßte sie an sich und weinte leise, als ob er sie erwecken könne.
    „Martha, Martha“, flüsterte er dann. „Weißt du, wie ich dich zum ersten Mal in den Armen hielt? Du warst so lieb und so gut, und wir waren so glücklich, so selig! Unsere Herzen waren warm, und wir glaubten an die Menschen. Dann kam es anders, anders, anders! O Gott, du lieber, lieber Gott, ist es denn möglich, daß es so ganz, ganz anders kommen kann? Wir haben gehungert, damit die Kinder nicht verhungern sollten! Die Entbehrung, das nackte Elend hat an unserem Leben genagt, und andere, die reich wurden durch uns, schwelgten im Überfluß und stießen uns mit Füßen. Dich warf der Hunger auf das Krankenlager, der Hunger, der Hunger allein, o Gott! Und ich stand am Pult, summierte die Reichtümer und schlang meine glühenden Tränen hinab. Nun sind wir die Eltern einer Diebin, und ich soll in den Kerker zurück. Dich hat der Schreck erschlagen, und ich halte dich zum letzten, zum allerletzten Mal in den Armen. Was einst so glücklich war, so warm, das Herz, es ist jetzt so starr, so kalt, kalt, kalt! Komm, ich will Dich fester umfassen; ich will Dich umschlingen, umarmen! Du bist mein Weib, mein treues, gutes Weib, und wir verlassen uns nicht, weder im Leben noch im Tod!“
    Er drückte sie an sich und küßte sie auf den bleichen, starren Mund, als ob sie noch am Leben sei. Dann fuhr er fort:
    „Horch, Martha! Hörst du, wie ich für uns bete? Ich sollte nicht beten, sondern fluchen! Aber nein! Ich denke an niemand; ich habe jetzt dich, nur dich allein, und ich segne dich! Ja, du Gute, du Liebe, du Treue! Der Herr segne und behüte dich! Der Herr erleuchte sein Angesicht auf dich und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht über dir und gebe dir Frieden! Amen!“
    Nun wurde es still in der Totenhalle. Nur zuweilen erklang ein leises Rascheln wie von steifgefrorenen Kleidern. Der Mond ging seinen Gang; sein Schein glitt von der Gruppe fort, nach rechts, immer an der Wand hin und endlich zur Tür hinaus, durch welche die grimmige Kälte der Winternacht hereindrang.
    Am Morgen erzählte man sich im Ort eine seltsame Kunde. Der Totengräber hatte das Grab der Schreibersfrau beginnen wollen und war dabei in die Leichenhalle gekommen. Dort hatte er die Tote gefunden – in den Armen ihres Mannes liegend. Auch er war tot. Aber noch vor dem Scheiden hatte er seinem Weib die Anweisung auf fünfzig Gulden in die erstarrte Hand gedrückt.
    Viele, viele gingen hinaus auf den Kirchhof, um das seltsame Paar zu sehen. Auch der Arzt kam. Er konstatierte, daß der Schreiber erfroren sei – ob seit Jahren langsam verhungert? Pah! Niemand glaubt mehr, daß ein Mensch wirklich verhungern kann! –
    Das Weib des Akrobaten hatte, während der Knabe vor Schwäche, Jammer und Weinen in Schlaf versunken war, bei den drei Bewußtlosen gesessen, um ihr Erwachen ruhig abzuwarten. Zuerst allerdings war sie ernstlich besorgt, daß sie tot seien; aber bald hatte sie bemerkt, daß ihr Atem ruhig ging und ihre Pulse deutlich schlugen. Dadurch war sie beruhigt worden.
    Und geradeso, wie der Fremde es gesagt hatte, so geschah es. Eine Stunde vor der Kassenöffnung zu der beabsichtigten Vorstellung erwachte einer nach dem anderen. Keiner konnte sich zunächst auf das besinnen, was geschehen war; als aber die Frau ihrem Gedächtnis zu Hilfe kam, konnte sich der Riese vor Wut kaum fassen. Er fluchte und tobte. Er schlug mit der Peitsche auf den Kleinen ein, dem er die Schuld an dem Vorgefallenen ganz allein beimaß. Dann begab er sich in den Saal, wo noch einige Vorbereitungen zu treffen waren. Er ließ sich hier Branntwein geben, um seinen Ärger hinabzuspülen, wie er sich ausdrückte, und trank so schnell und viel, daß ihm die beiden anderen die Flasche endlich wegnahmen, da sie befürchteten, er möchte so betrunken werden, daß die Vorstellung nicht stattfinden könne.
    Während dann die Frau sich an die Kasse setzte,

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