61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
stand, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte laut. Der Beamte ließ ihn einige Zeit gewähren, mahnte aber dann:
„Fassen und trösten Sie sich! Bei der langwierigen Krankheit der Verstorbenen mußten Sie immer auf den Tod gefaßt sein. Das müssen Sie bedenken!“
„Ja“, schluchzte der Arme. „Auf ihren Tod gefaßt, auf ein sanftes, leises Einschlafen in Gegenwart ihres Mannes und ihrer Kinder; auf ein Einschlafen, nachdem sie uns gute Nacht gesagt hatte. Aber wie anders ist das gekommen!“
„Ein rascher Tod ist auch ein Glück!“
„So aber nicht! Sie ist vor Schreck gestorben! Ihre Tochter eine Diebin, und ihr Mann ein Aufrührer; beide gefangen, in den Händen des Gendarmen! Das hat ihr den Tod gegeben! Was liegt mir nun an der Freiheit und am Leben! Ich möchte mich zu ihr in den Sarg legen und auch sterben!“
„Fassen Sie Mut! Auch dieser Schmerz wird sich überwinden lassen!“
Beyer schüttelte den Kopf und sagte:
„Und wie wird man sie gebettet haben! In ein altes Tuch gewickelt, wird sie im Kommunesarg liegen! Herrgott! Eine Frau wie diese, und in einem solchen Sarg!“
„Sie irren! Der bereits erwähnte Wohltäter hat auch für das Begräbnis der Toten gesorgt.“
„Wer ist er?“
„Man nennt ihn den Fürsten des Elends.“
„Dieser? Gott segne es ihm; Gott lohne es ihm in alle Ewigkeit! Könnte ich die Tote doch noch einmal sehen!“
„Sie können es. Es ist eine Kaution für Sie erlegt worden. Ich kann Sie auf Handschlag entlassen, wenn Sie mir Ihr Wort und Ihre Unterschrift geben, sich der Urteilsvollstreckung nicht durch die Flucht zu entziehen.“
„Wie gern, wie gern will ich es geben! Aber wie wird meine Strafe ausfallen?“
„Sie werden eine kurze Kerkerhaft erhalten.“
„Und meine Tochter? Darf sie auch mit?“
„Nein.“
„Herrgott! Sie soll ihre Mutter nicht noch einmal sehen?“
„Es ist das leider nicht möglich!“
„So gehe ich auch nicht, Herr Aktuar!“
„Handeln Sie nicht unsinnig! Bedenken Sie doch, daß Sie noch andere Kinder haben!“
„Andere Kinder! Ja! Aber ihre Mutter ist tot; ihre Schwester ist eine Diebin, und ihr Vater wird im Kerker sitzen.“
„Vielleicht nimmt die Untersuchung gegen ihre Tochter ein unerwartet besseres Ende.“
„Herr Aktuar, ich erwarte nichts. Sie ist unschuldig, unschuldig wie die liebe Sonne am Himmel; aber ich kenne die, welche sie verderben wollen. Ich bin so unvorsichtig gewesen, von dem Ring zu plaudern, und da sind sie mir zuvorgekommen. Sie kennen weder Gnade noch Barmherzigkeit.“
„Man soll die Hoffnung nicht sinken lassen. Sehen Sie diesen Hundertguldenschein! Die Hälfte davon gehört Ihnen.“
„Mir. Von wem?“
„Auch vom Fürsten des Elends.“
Der arme Mann blickte freudlos auf das Geld.
„Herr“, sagte er, „was nützt mir alles Geld! Mein Weib ist tot, und unsere Ehre ist dahin. Kann die Tote auferstehen? Kann die Ehre wiederkommen?“
„Sie sehen zu schwarz. Die Arretur hat Sie erschreckt, und im Kerker ist Ihnen der Lebensmut verlorengegangen. Sobald Sie hinauskommen, werden Sie Hoffnung schöpfen.“
„Ich will es versuchen. Also ich darf gehen?“
„Nachdem Sie das Entlassungsprotokoll unterschrieben und mir dazu Ihren Handschlag gegeben haben!“
Dies geschah. Er wurde entlassen und erhielt vom Aktuar eine Anweisung über fünfzig Gulden an die Amtskasse. Als er die Tür bereits in der Hand hatte, fragte er nochmals:
„Also, Herr Assessor, meine Tochter darf nicht mit mir gehen?“
„Leider nein.“
„Und ich darf sie auch jetzt nicht sehen?“
„Nein, das darf ich nicht gestatten.“
„So sei der liebe Gott mit ihr!“
Er senkte den Kopf und ging. Er vergaß, sich nach der Kasse zu verfügen. Er dachte gar nicht daran. Er ging nicht durch die Stadt, sondern machte einen weiten Umweg um dieselbe. Er, der noch in Untersuchung stand, der Vater einer Diebin, wollte sich nicht sehen lassen.
Es war Winter, und die Tage waren noch kurz. Noch aber war es hell, und daher mied er die gebahnte Straße. Kein Mensch sollte ihn sehen, ihn, der gestern gefesselt fortgeschleppt worden war.
Er watete durch den tiefen Schnee. Die immer steigende Kälte drang durch seine schlechten Stiefel und das dünne, abgetragene Röckchen. Er fühlte es nicht.
„Tot! Tot! Vor Schreck gestorben!“ murmelte er immer vor sich hin. „Auch ich bin tot! Moralisch gestorben! Ich habe keine Ehre mehr! Ich muß in den Kerker!“
Er hatte nichts gegessen; er hatte ja stets, stets
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