61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
begaben die anderen sich hinauf, um ihre Flitter anzulegen.
In abgelegenen Gegenden ist es selten, daß sich einmal ‚Künstler‘ sehen lassen; geschieht dies aber doch, dann ist diesen herumziehenden Wanderern fast immer ein zahlreicher Besuch gewiß. So auch hier.
Der Saal war nicht sehr groß. Er füllte sich nach kurzer Zeit, und die Frau wagte es sogar, einige kleine Silberstücke für heimlichen Gebrauch zu annektieren.
Da, wo sich sonst das Orchester öffnete, war heute ein Vorhang zu sehen, zwar nicht aus Meisterhand stammend, aber doch von Leinwand und mit hübschen, bunten Farben bemalt. Das Publikum, welches vor diesem Vorhang zu warten hatte, war ein ungeduldiges. Noch war die Zeit des Beginns nicht gekommen, als man bereits durch Pochen, Klopfen und Strampeln den Anfang zu beschleunigen versuchte.
Die Herrschaften, welche auf den vorderen Bänken saßen, nahmen an dieser Demonstration allerdings nicht teil. Strampeln kann nur der Plebs. Sie aber, die Honoratioren des Ortes, die Angehörigen des Kasinos, wußten, wie man an öffentlichen Orten seine Distinktion zu bewahren habe. Sie blieben ruhig, bis der heisere Ton einer Schelle ertönte und der Vorhang sich in die Höhe bewegte.
Man erblickte einen schwarz verhängten Tisch, auf welchem verschiedene Gegenstände, Büchsen, Gläser, Messer, Kugeln, lagen, mit denen die Künstler ihre Produktionen begannen. Dann folgten Karten- und andere Kunststücke, bis im letzten Teil die eigentlichen Leistungen der Athletik beginnen sollten. Dieser Teil sollte, wie das Programm verkündete, mit der weltberühmten und erstaunlichen ‚Pyramide‘ anfangen.
Der Knabe erschien, in glitzernde Trikots gekleidet. Er sollte, nach der Ankündigung, die Vorstellung durch seine eminenten Kautschukkünste beschließen. Der Eindruck, welchen er auf die Zuschauer machte, war ein recht guter.
„Der kleine Junge! Ein hübscher Knabe! Ein allerliebstes Kind!“ konnte man flüstern hören. „Wie gut gewachsen! Wie blaß er aussieht! Er scheint sich vor dem Riesen zu fürchten!“
Dieser letztere hatte während der ganzen Vorstellung eine auffallende Unsicherheit gezeigt. Er wankte stark; er taumelte sogar zuweilen, und schließlich hatte die Ansicht, daß er betrunken sei, im Publikum Wurzel geschlagen. Jetzt verkündete er mit beinahe lallender Stimme den Beginn der Pyramide.
Er stellte sich breitspurig auf, wankte aber.
„So steh doch fest!“ hörte man ihm von dem einen zuraunen.
Dies mochte dem Knaben Mut geben. Man hörte seine zwar nur halblaute, aber doch klare Stimme bitten:
„Oh, nicht da hinauf! Ich fürchte mich so sehr!“
Der Riese faßte ihn bei den Haaren, riß ihn hin und her und antwortete, auch ziemlich vernehmlich:
„Verfluchte Kröte! Soll ich dich endlich totschlagen? Hinauf mußt du, und wenn du zehnmal den Hals brichst!“
Und mit lauter Kommandostimme fügte er hinzu:
„Achtung! Eins! Zwei! Drei!“
Bei eins und zwei sprangen ihm seine Gefährten auf die Achseln. Bei drei erfaßte er den Knaben und schnellte ihn empor. War es sein Zorn oder seine Betrunkenheit oder auch beides zugleich – er hatte zuviel Kraft angewendet. Der Knabe flog hoch bis zur Decke empor, ohne daß er von den beiden ergriffen werden konnte.
Ein einziger Schrei, aber aus allen Kehlen, erscholl im Saal; dann tat es einen lauten, fürchterlichen Krach. Der Kleine war aus dieser Höhe herabgestürzt, und zwar mit dem Kopf auf das Geländer des Orchesters.
Einen Augenblick lang gab es die Stille des Todes. Dann aber gab es ein geradezu fürchterliches Durcheinander von Stimmen und Personen. Alle wollten nach der Stelle hin, wo der Knabe ohne Bewegung lag, und ein jeder und jede wollte der oder die erste sein. Einige der vorn sitzenden hatten die Geistesgegenwart, die Menge zurückzudrängen und mit lauter Stimme zur Ruhe zu ermahnen. Unter ihnen befand sich auch Doktor Werner, der bekannte Knappschafts- und Armenarzt. Er näherte sich dem Knaben und tat, als ob er ihn untersuche. In Wahrheit aber war es nur ein gleichgültiger Blick, den er auf ihn warf.
Auch der Amtmann war anwesend. Er hatte sich herbeigedrängt und kniete vor dem Kleinen nieder.
„Ohnmächtig nur! Nicht wahr, Herr Doktor?“ fragte er.
Der Arzt zuckte die Achsel, bückte sich nieder, befühlte den Hals des Knaben und antwortete:
„Tot!“
„Um Gottes willen! Das wollen wir nicht befürchten!“
„Pah! Den Hals gebrochen!“
„Ist das gewiß und wirklich wahr?“
„Glauben Sie,
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