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61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig

61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig

Titel: 61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gehungert! Er wurde müde; er setzte sich. Der Schlaf, der gefährliche Schlaf wollte ihn übermannen, aber ein Gedanke war stärker noch als die Müdigkeit:
    „Sie ist tot!“ flüsterte er. „Sie hat mit mir gedarbt und gehungert, mit mir gelitten und gekümmert, und nun ist sie gestorben ohne mich. Ich muß zu ihr, hin zu ihr!“
    Er raffte sich auf und schleppte sich weiter. Die Nacht brach herein. Die Luft war still, aber die Kälte wurde schneidig. Er bog nach der Straße ein. Kaum als er diese erreicht hatte, kam ein Schlitten gesaust. Beyer trat auf die Seite; aber der Lenker des Schlittens hielt vor ihm an; er hatte die schlotternde Gestalt des Frierenden erkannt.
    „Donnerwetter! Kennst du den, Onkel?“ fragte er.
    Es war Fritz Seidelmann. Sein Oheim, der fromme Schuster, saß neben ihm, beide in warme Pelze gehüllt. Sie wollten die ‚Künstlervorstellung‘ besuchen.
    „Der?“ fragte der Vorsteher der Seligen. „Ah! Ist das nicht euer Schreiber?“
    „Der gewesene natürlich! Kerl, wo kommst du her? Du bist doch nicht etwa aus der Gefangenschaft entflohen?“
    „Man hat mich entlassen“, antwortete Beyer monoton.
    „Und Ihre Tochter mit, die Sünderin?“ fragte der Oheim.
    „Nein.“
    „So laß ihn, Fritz! Das Böse ist mächtig in der Welt, aber die Gerechtigkeit ist schneller. Siehst du, wie er bebt, wie er zittert? Hörst du das Klappern seiner Zähne? Das böse Gewissen hat ihn gepackt und wird ihn nicht wieder fahrenlassen. Es wird für ihn sein Heulen und Zähneklappern jetzt und in alle Ewigkeit. Fahr zu!“
    Der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung. Beyer sagte nichts und dachte nichts; er schlotterte taumelnd weiter. Er wollte umsinken vor Hunger und vor Müdigkeit, aber der eine Gedanke, der Gedanke an die Tote, trieb ihn vorwärts.
    So erreichte er das Heimatstädtchen. Der Atem stockte ihm in der Brust vor Kälte.
    „Bei Hausers sind die Kinder“, murmelte er. „Ich muß sie einmal hören, einmal sehen. Aber mich sehen, nein, das soll man nicht!“
    Auch hier ging er um den Ort herum und stieg von hinten über den Zaun in Hausers kleines Gärtchen ein. Der Schnee ging ihm bis über die Knie empor. Er näherte sich dem Fensterladen, in welchem sich ein Astloch befand. Er blickte durch dasselbe. Die Familie saß beim Abendessen; seine Kinder waren dabei. Auf dem Tische dampfte eine Suppe, in welche die Löffel fleißig langten.
    „Sie essen!“ flüsterte er. „Oh, sie werden satt, satt, satt! Ich habe – keinen Hunger, keinen, keinen!“
    Und doch hielt er sich an der Ladenquerstange fest, um nicht umzufallen. Er beobachtete jede Bewegung seiner Kinder. So verging eine Viertelstunde, dann flüsterte er:
    „Horch, jetzt betet er! Jetzt liest er vor!“
    Und da erscholl die Stimme des alten, frommen Webers:
    „O laß den Gram nicht mächtig werden,
Du tief betrübtes Menschenkind!
Wiß, daß die Leiden dieser Erden
Des Himmels beste Gaben sind.
Und daß, wenn Sorgen dich umwogen
Und dich umhüllt des Zweifels Nacht,
Dort am vom Glanz umflossnen Bogen
Ein treues Vaterauge wacht!“
    Einige Augenblicke blieb es still. Der Alte räusperte sich und mochte seine Brille zurechtrücken. Dann fuhr er fort:
    „O laß dir nicht zu Herzen steigen
Die lang verhaltne Tränenflut!
Wiß, daß grad in den schmerzensreichen
Geschicken tiefe Weisheit ruht.
Und daß, wenn sonst dir nichts verbliebe,
Die Hoffnung doch dir immer lacht,
Da über dich in ewger Liebe
Ein treues Vaterauge wacht!“
    „Ein treues Vaterauge!“ flüsterte Beyer. „Ja, Kinder, ein Vaterauge hat euch gesehen, ohne daß ihr es ahnt. Gute Nacht! Schlaft wohl! Gottes Vaterauge wird weiter über euch wachen!“
    Seine Beine, seine ganzen Gelenke waren steif geworden. Er vermochte kaum, sich zu bewegen. Endlich ging es. Er stieg über den Zaun zurück und watete weiter fort.
    „Wo wird sie sein?“ fragte er. „Auf dem Gottesacker! Im Leichenhaus! Hin, hin zu ihr!“
    So arbeitete er sich weiter, immer weiter! Er erreichte die Pforte des Friedhofs. Sie war nicht verschlossen. In jenen Gegenden haben die Toten vor den Lebenden Ruhe; man braucht die Tore, welche aus dem Dasein führen, nicht mit Schlüsseln zu versperren. Er trat ein und schritt auf das Leichenhaus zu.
    Auch dieses war nicht verschlossen. Der Mond schien hell, und als Beyer die Tür öffnete, fielen die fahlen Strahlen in das Innere.
    „Da liegt sie, da!“ sagte er.
    Es gab in dem kleinen Städtchen kein Sargmagazin, also keine fertigen Särge zu

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