61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
eingefallen, sich Rechenschaft über sein Herz zu geben; er war sich seines Zustands nie klargeworden, bis heute mit einem Mal zwei Gewißheiten zerschmetternd auf ihn niederstürzten, nämlich, daß er sie liebe, mit jeder Faser seines Herzens liebe, und daß er sie verloren habe, noch ehe er sich dieser Liebe bewußt geworden sei.
So stand er da. Der eisige Hauch des Winters umwehte ihn; das Vermögen, geordnete Gedanken zu haben, kehrte zurück; in seinen Schläfen klopfte es; sein Herz hämmerte gegen die Rippen; er streckte seine Arme aus und flüsterte:
„Angelika, Engelchen! Ich wollte, ich wäre tot!“
Er lehnte den Kopf an den kalten Türpfosten und summte wie gedankenlos die Melodie jenes tiefsinnigen Liedes vor sich hin: „Wenn sich zwei Herzen scheiden, die sich dereinst geliebt, das ist ein großes Leiden, wie's größer keines gibt!“ Aber als er bei der zweiten Strophe angekommen, sprach er die halblauten Worte aus:
„Als ich zuerst empfunden,
Daß Liebe brechen mag,
War mir's, als sei verschwunden
Die Sonn' am hellen Tag.
Es klang das Wort so traurig gar:
Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar.
Als ich zuerst empfunden,
Daß Liebe brechen mag.“
Er fühlte, daß es ihm feucht aus den Augen tropfte; er wischte die Tränen fort, aber immer neue drangen nach, bis er, mit dem Fuß auf den Boden stampfend, zu sich sagte:
„Sie ist verloren; sie hat einen Geliebten; darum ist ihr Vater so stolz gegen uns. Ich kann nichts dagegen machen; ich habe meine Zeit versäumt und werde nun einsam durch das Leben gehen. Aber als Italienerin muß ich sie sehen, als Italienerin in dem Kostüm, in welchem sie an seinem Arm durch den Saal schwebt. Ich werde dann zu derselben Zeit im Webstuhl sitzen – o nein, sondern tief in der Kohlengrube stecken! Oh, Engelchen, warum hast du mir doch das getan!“
Er kehrte in die Stube zurück. Die Seinen standen im Begriff, schlafen zu gehen. Als der Abendsegen gesprochen worden war und sie sich entfernt hatten, setzte er sich einsam an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und ließ die Gefühle, welche in seinem Innern aufgeschreckt worden waren, ohne Widerstand auf sich einstürmen. –
„Oh, diese Hand! Brrr, eine Leichenhand!“ hatte Engelchen vorhin, als sie von ihm fortgeeilt war, vor sich hin gemurmelt. „So eine Hand ist entsetzlich!“
Als sie ihre Wohnung erreichte, waren die Eltern noch wach. Der Vater begann sogleich wieder von der Einladung zu sprechen und von dem Glück, welches ihr daraus erwachsen könne, und die Mutter breitete den mit goldenen und silbernen Füttern besetzten Anzug vor ihr aus und machte sie auf die Art und Weise aufmerksam, wie derselbe noch zu verschönern sei.
Sie liebte Eduard Hauser; aber sie war sich dessen noch nicht bewußt geworden. Darum machten die Flitter auf sie, das unbemittelte Webermädchen, Eindruck, und das, was der Vater sagte, schmeichelte ihrer Eigenliebe.
Nur reiche Mitglieder zählte das Kasino. Einer desselben hatte sie nicht nur eingeladen, sondern ihr sogar den Anzug geschenkt; er war also ganz gewiß verliebt in sie. Es lag nur in ihrer Hand, eine reiche Frau zu werden! Geld, Geschmeide, kostbare Kleider, Vergnügungen aller Art schwebten an ihrem geistigen Auge vorüber. Sie bemerkte gar nicht, daß der Vater nach einiger Zeit zur Ruhe ging, und sie beachtete es kaum, daß die Mutter ihm nach wenigen Minuten folgte.
„Eine reiche Frau! Eine reiche Frau!“ klang ihr ihre eigene Stimme fortwährend schmeichelnd in die Ohren, bis sie endlich aus dem Sinnen emporschreckte. Es hatte leise an die Fensterläden geklopft.
„Der Eduard ist's“, sagte sie zu sich. „Wie schade, daß er nicht auch wohlhabend ist! Er wäre ganz sicher der Beste und vielleicht auch der Hübscheste von allen! Er war vorhin so – so – so – hm – gegen mich, und dafür muß er bestraft werden. Er soll mich in diesem Anzug sehen und vor Ärger vergehen müssen. Vor dem Vater möchte ich mich nicht so sehen lassen, ich schämte mich zu Tode, auch wohl vor dem Eduard nicht, denn er ist doch kein Mädchen; aber weil er mich geärgert hat, tue ich es dennoch! Und die vornehmen Herren auf dem Ball, die sehen mich doch auch! Nun, die kennen mich ja nicht, und mein Gesicht ist verhüllt! Da braucht man sich nicht zu schämen.“
Sie öffnete leise, leise die Türen und ließ Eduard herein. Sein Gesicht erschreckte sie; die Farbe desselben spielte in das Aschfahle; seine Augen waren eingefallen, und in seinen Zügen lag ein
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