61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
nachlaufen soll, um ihn zurückzurufen und ihm gute Worte zu geben. Aber da irrt er sich gewaltig! Wer mich beleidigt, dem springe ich nicht hinterher. Er hat sich niedergekauert, weil es bitterkalt ist. Nun, er mag frieren. Wenn er merkt, daß ich nicht komme, wird er schon schlafen gehen.“
Der aber, welcher drüben an der Ecke kauerte, dachte nicht daran, daß sie ihm nachlaufen solle. Er war ein rüstiger Bursche; aber er hatte mehrere Wochen lang bei geringster Kost sich übermäßig angestrengt, und zu dieser körperlichen Schwäche kam nun heute der gewaltige seelische Schlag. Dem konnte er nicht widerstehen.
Er kauerte dort lange, lange Zeit. Dann endlich raffte er sich auf und ging in das Haus, um sein Lager aufzusuchen. Dort lag er noch stundenlang wach und in dumpfem Brüten. Der wohltätige Genius des Schlafes überraschte ihn erst spät, so daß es fast Mittag war, als er erwachte.
VIERTES KAPITEL
Die Heuchler
Heute war Sonntag. Als er in das Wohnzimmer trat, war dasselbe gut geheizt, jetzt eine Seltenheit, und vom Ofen her verbreitete sich ein kräftiger, erquickender Fleischgeruch. Die Familie hatte nach langer Zeit endlich einmal wieder ein hinreichendes Sonntagsmahl. Während des Essens sagte die Mutter zu Eduard:
„Du hast sehr lange geschlafen und weißt also die Neuigkeit noch nicht. Der Bruder des Seidelmann, der heilige Schuster, ist jetzt Vorsteher einer Sekte und wird mit der Erlaubnis des Pastors und des Bürgermeisters heute nachmittag um fünf im Schenksaal eine Missionspredigt halten. Gehst du hin?“
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete er einsilbig.
Nach Tisch wanderte er hinaus nach dem Schacht, um mit dem Obersteiger zu sprechen. Er durfte annehmen, daß der brave Förster bereits bei demselben gewesen sei. Dies war auch wirklich der Fall, aber gerade eben als der Obersteiger seine Zusage gegeben hatte, war ein Bote von Seidelmanns gekommen und hatte den Befehl gebracht, daß Eduard Hauser, wenn er um Arbeit anfragen sollte, ein für allemal abzuweisen sei.
„Wer hat das befohlen?“ fragte der Obersteiger.
„Der junge Herr; aber der Vater und der Oheim wissen auch davon.“
Da wendete sich der Beamte achselzuckend zu dem Förster und sagte in aufrichtig bedauerndem Ton:
„Es tut mir herzlich leid; aber dagegen läßt sich gar nichts tun. Sie kennen die Verhältnisse nicht. Der heilige Seidelmann ist Bevollmächtigter des Herrn Baron, und außerdem sind Verhältnisse zu berücksichtigen, von denen ich hier gar nicht sprechen kann.“
Als Eduard kam, sah er seine Hoffnung in Trümmer fallen.
Am Morgen dieses Tages hatten zwei Lastwagen vor der Tür des Seidelmannschen Hauses gehalten, von denen eine große Anzahl Webstühle abgeladen worden waren.
„Was willst du mit dem Zeug?“ hatte der einstige Schuster seinen Bruder gefragt. „Es ist ja alt und abgenutzt!“
Der Fabrikant streichelte wohlgefällig sein Kinn und antwortete:
„Das verstehst du nicht. Diese Webstühle habe ich aus einer Konkursmasse erstanden; das Stück kostet mich zwei Gulden. Wer hier von mir Arbeit haben will, muß seinen Stuhl von mir nehmen, entweder per Kauf oder auf Miete. Ich verkaufe das Stück zu zwanzig Gulden; die Miete beträgt sechs Gulden pro Jahr. Wird der Stuhl alt und es bricht etwas, ist der Mieter kontraktlich gezwungen, mir zwanzig Gulden zu zahlen.“
Der Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit nickte zustimmend mit dem Kopf und sagte:
„Ein jeder wuchre mit dem Pfund, das ihm verliehen ist! Wohl dem, der die Bedeutung der Schriftworte so klar erkennt, daß sie ihm Nutzen bringen!“
Zu derselben Zeit saß der junge Seidelmann im Kontor und bemühte sich, für den zu erwartenden Maskenball die Figuren einer Polonaise zu Papier zu bringen. In der hintersten Ecke des Raums stand ein hageres, dürftiges Männchen am Stehpult und kritzelte lange Ziffernreihen in ein Kontobuch. Dieser Schreiber schien nicht sehr gelaunt darüber zu sein, daß er gezwungen war, am Sonntagvormittage hier zu arbeiten. Er trippelte mit den Füßen; er kaute ungeduldig an der Feder; endlich klappte er das Buch zu und näherte sich dem jungen Prinzipal. Dieser bemerkte das und fragte ziemlich barsch:
„Was wollen Sie?“
„Ich möchte bitten, mich doch für heute zu entlassen, mein verehrtester Herr Seidelmann!“
„Das geht nicht. Sie werden gebraucht.“
„Ich habe bereits gestern die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß meine Frau schwer krank darniederliegt.“
„Was
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