61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
Etwas, vor dem sie sich fürchten zu müssen glaubte.
Er deutete, ohne ihr eine Hand gegeben zu haben, auf den Tisch und fragte:
„Ist das die Italienerin?“
„Ja. Nicht wahr? Herrlich!“
„Sehr!“ antwortete er tonlos. „Und diese Sachen willst du wirklich anziehen?“
„Natürlich!“ verwunderte sie sich.
„Du wirst allen, allen gefallen!“
„Meinst du wirklich?“
„Das ist ja ganz natürlich!“
„So laß sehen, ob ich dir auch gefalle!“
Sie griff nach der Garderobe.
„Du willst dich wirklich einmal ankleiden?“
„Ich habe es dir ja versprochen, mich als Italienerin zu sehen!“
„Gut, so tue es. Soll ich mich umdrehen?“
„Ich bitte dich darum.“
Er drehte seinen Stuhl gegen die Wand. An derselben hing ein Spiegel, in welchem sich das kleine Stübchen fast vollständig konterfeite. Er sah, daß sie die Jacke auszog und die Schürze samt dem oberen Rock entfernte. Sie legte den Maskenanzug und auch die dazugehörigen weißen Strümpfe an. Er sah im Spiegel alles, alles. Er hatte von ihrer Schönheit noch gar keine Ahnung gehabt. Diese vollen, blendenden Arme, dieser üppige Nacken, die reiche Büste, die enge Taille, das kleine Füßchen und das schön geformte Bein! Er war ein armer Weber und kein erotischer Gourmand, kein Kenner weiblicher Schönheit; aber das Bild, welches sich jetzt innerhalb des Spiegelrahmens bewegte, dünkte ihm der Inbegriff alles Herrlichen und Schönen zu sein.
Er hatte versäumt, die Hand nach diesem Schatz auszustrecken, und nun war ein anderer gekommen. Er knirschte die Zähne zusammen und blieb scheinbar ruhig.
Jetzt trat sie näher, um auch einen Blick in den Spiegel zu werfen. Sofort wendete er sich ab, damit sie nicht bemerken sollte, daß er imstande gewesen sei, sie in dieser Weise zu beobachten. Sie steckte noch eine künstliche Rosenknospe an die Brust und sagte dann:
„So, jetzt darfst du dich umdrehen!“
Er wendete sich langsam um und betrachtete sie von dem Scheitel an bis zu den Zehen herab. Sein Gesicht blieb dabei bewegungslos, und sein Blick schien immer starrer zu werden.
„Nun, wie gefalle ich dir?“
„Ganz und gar nicht“, antwortete er langsam und mit einem Nachdruck, der nicht ohne Wirkung blieb.
„Was? Nicht? Ganz und gar nicht?“ fragte sie, vor Ärger errötend. „Willst du mir wohl sagen, warum?“
„Nun, hast du denn bemerkt, daß dir das dünne Röckchen nur bis auf das Knie geht?“
„So ist's in Italien!“
„Daß die Strümpfe durchbrochen sind, so daß man mehr Haut als Strumpf zu sehen bekommt?“
„In Italien muß es sehr heiß sein!“
„Siehe deine entblößten Arme!“
„Das ist dort so gebräuchlich!“
„Das tief ausgeschnittene Mieder!“
Sie hätte eigentlich erröten mögen, aber der Ton, in welchem er mit ihr sprach, erregte ihren Zorn, und darum antwortete sie kurz und zurückweisend:
„Auch das ist Mode dort in Italien!“
Da erhob er sich von seinem Stuhl, verschränkte die Arme über die Brust und fragte:
„Weißt du, wer hier bei uns Arm und Bein und Brust so zeigt wie du?“
Sie errötete und wurde schon im nächsten Augenblick wieder blaß. Ihr mädchenhaftes Zartgefühl erkannte das Richtige; aber es sollte nicht über sie triumphieren.
„Nun, wer denn?“
„Die Mädchen, welche verloren sind.“
Sie gab sich Mühe, ein höhnisches Lächeln zu zeigen, und sagte:
„Hast du dergleichen schon kennengelernt, daß du es so genau weißt?“
Er zuckte die Achseln und antwortete:
„Engelchen habe ich dich genannt, aber ich kann dich unmöglich auch fernerhin so nennen, wenn du zu diesem Ball gehst. Du kennst mich von frühester Jugend an; du kennst mein Leben, alle meine Gedanken. Und dennoch fragst du, ob ich diese Verlorenen kennengelernt habe! Das ist eine Schlechtigkeit von dir! Die Schönheiten eines Mädchens sind für kein einziges Auge da; diejenigen eines Weibes sind nur für den Mann ihrer Wahl vorhanden. Eine Frau, welche andere Männer zu Mitbesitzern macht, selbst wenn es nur durch das Auge wäre, und ein Mädchen, welches zu jungen Burschen in solcher Kleidung geht, wie diese hier ist, diese beiden gehören zu den Verlorenen. Ich bitte dich um Gottes willen, von deinem Entschluß zurückzutreten! Man darf wohl ahnen, wie schön ein Mädchen ist, sehen aber darf es nur ein einziger. Für jetzt bin ich der einzige, dem du dich gezeigt hast; es bleibt dir nur die Wahl zwischen mir und der Schande. Entscheide dich, Angelika!“
Er stand trotz seiner
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