61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
dürfte klar sein, dass der Mann schon durch ist oder vielleicht gar nicht kommt.«
»Erzählen Sie mir, wie der Anwesenheitsappell für Ihre Leute abläuft.«
»Für den bin ich zuständig. Über Funk. Ich gehe die Liste durch, sie antworten aus ihren Wagen oder über ihre Kragenmikrofone. Ich hake sie ab.«
»Wie war’s heute Abend?«
»Alle vollzählig.«
»Niemand abwesend?«
»Niemand.«
»Stottern? Zögern?«
»Nichts dergleichen.«
»Wann hat der Appell stattgefunden?«
»Ich habe damit angefangen, als ich die Sirene hörte. Das Ganze dauert ungefähr fünf Minuten.«
»Die Bestätigung kommt also von den Leuten selbst. Nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
Reacher sagte: »Sie wissen nicht wirklich, wo sie sind oder was sie tun. Sie wissen nur, ob sie sich auf Ihren Anruf hin gemeldet haben.«
»Ich frage sie, wo sie sich befinden. Sie sagen es mir. Sie sind in Position oder kurz davor. Und der Gefängnisdirektor kann sie auch überprüfen.«
»Wie?«
»Er kann sich von einem der Wachttürme aus umsehen. Das Land ist flach. Oder er kann sich in unser Funknetz einklinken und die Anwesenheit kontrollieren.«
»Hat er das heute Nacht gemacht?«
»Das weiß ich nicht.«
Reacher fragte: »Wer war heute als Letzter in Position?«
»Kann ich nicht sagen. Zu Anfang des Alphabets sind alle unterwegs. Gegen Ende zu sind sie bereits vor Ort.«
»Sagen sie jedenfalls.«
»Warum sollte ich daran zweifeln?«
»Sie müssen Chief Holland verständigen«, sagte Reacher. »Mrs. Salter ist tot.«
Reacher machte einen Rundgang durch die leere Polizeistation und warf einen Blick in den Bereitschaftsraum, in Hollands Dienstzimmer, in die Toiletten und zuletzt in den Raum, in dem die Tatortfotos an den Wänden hingen: von dem Biker und dem Anwalt. Er setzte sich mit dem Rücken zu dem Biker hin und betrachtete den Anwalt. Wie der Mann hieß, wusste er nicht. Er wusste überhaupt nicht viel über ihn. Aber er wusste genug, um die Parallelen zwischen diesem Mann und Janet Salter zu erkennen. Ein Mann, keine Frau, eine schneebedeckte Straße, keine behaglich warme Bibliothek, aber sie waren beide halb kluge, halb lebensuntüchtige Menschen gewesen, denen trügerische Sicherheit suggeriert worden war. Der Schalthebel in Stellung P und das ganz heruntergefahrene linke Fenster bedeuteten nichts anderes als Janet Salters bequeme Haltung und das Buch auf ihren Knien.
Man muss ihre Motive verstehen, ihre Lebensumstände, ihre Ziele, ihre Sehnsüchte, ihre Ängste, ihre Bedürfnisse. Man muss wie sie denken. Sehen, was sie sehen. Sie sein.
Beide waren ganz bei der Sache gewesen, nicht teilweise, nicht nur halb. Sie hatten volles Vertrauen gehabt. Sie hatten sich buch stäblich geöffnet. Türen, Fenster, Herzen, Verstand. Nicht be sorgt, nicht misstrauisch.
Beide hatten sich vorbehaltlos auf ein Gespräch eingelassen.
Nicht jeder Cop hätte ihnen das antun können.
Es war jemand gewesen, den beide kannten, mit dem sie manchmal sprachen, der ihnen vertraut war.
Peterson hatte gefragt: Was würde Ihre Eliteeinheit als Nächstes tun?
Antwort: Reacher oder Susan oder jeder andere Kommandeur des 110th Special Unit hätte die Füße auf den verbeulten Schreibtisch gelegt und zwei eifrige Leutnants losgeschickt, um das Leben der beiden zu erforschen und feststellen zu lassen, wen sie im Bolton PD gekannt hatten – in absteigender Reihenfolge. Dann brauchte man nur noch die Listen nebeneinanderzulegen, um den wahrscheinlichsten Namen zu finden.
Reacher hatte keine eifrigen Leutnants.
Aber es gab andere Methoden.
Eine Minute später hörte Reacher Schritte, die auf dem Korridor näher kamen. Unrhythmisch. Eine Sohle trat klatschend auf, die andere schleifte ein Stück weit. Der Alte vom Empfang. Er hinkte leicht. Er steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Chief Holland ist hierher unterwegs. Er verlässt seinen Posten dort draußen. Das dürfte er nicht, aber tut’s trotzdem.«
Reacher nickte. Schwieg.
Der alte Mann sagte: »Echt schlimm, was Mrs. Salter passiert ist.«
»Stimmt.«
»Wissen Sie, wer’s war?«
»Noch nicht. Hat irgendjemand angerufen?«
»Wer zum Beispiel?«
»Vielleicht ein Nachbar. Immerhin ist ein Schuss gefallen.«
»Im Hausinneren?«
»In ihrer Bibliothek.«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Die Häuser stehen weit auseinander. Praktisch jedes hat Dreifachisolierverglasung, und in einer Nacht wie dieser sind alle Fenster fest geschlossen.«
Reacher
Weitere Kostenlose Bücher