61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
schon wieder auf dem Weg nach oben. Er konnte ihre Schritte auf der Treppe hören. Ihre Eltern saßen schweigend am Tisch. Sie waren wie am Vortag angezogen: Peterson trug Uniform, seine Frau Jeans und Pullover. Die beiden redeten nicht miteinander, aber das Poltern rennender Füße über ihnen hätte ohnehin jedes Wort übertönt. Reacher goss sich Kaffee ein, und als er damit an den Tisch kam, war Peterson schon aufgestanden, um mit dem Pick-up die Einfahrt bis zur Straße zu räumen. Seine Frau ging nach oben, um dafür zu sorgen, dass die Kinder rechtzeitig fertig wurden. Eine Minute später stürmten die beiden Jungen die Treppe herunter und liefen aus dem Haus. Reacher hörte das Nageln eines großen Dieselmotors und sah im Schneetreiben kurz etwas Gelbes. Der Schulbus war offenbar trotz des Wetters pünktlich gekommen.
Wieder eine Minute später herrschte im Haus Totenstille. Kim Peterson erschien nicht wieder in der Küche. Reacher hatte kein Frühstück bekommen. Nicht weiter schlimm. Hungrig zu sein, machte ihm nichts aus. Er blieb allein am Tisch sitzen, bis Pe terson den Kopf zur Haustür hereinsteckte und ihn rief. Dann nahm er den geliehenen Highway-Patrol-Parka vom Haken und ging hinaus.
7.55 Uhr.
Noch achtundvierzig Stunden.
Der Anwalt kämpfte wieder mit seinem Garagentor. Auf seiner Einfahrt lagen dreißig Zentimeter Neuschnee, den eine leichte Brise gegen das Tor geweht hatte, sodass es sich nicht öffnen ließ. Er trug seine Überschuhe und hielt die Schneeschaufel in der Hand. Der Elektromotor an der Garagendecke strengte sich brummend an. Er packte den inneren Griff und riss ihn hoch. Die Ketten des Torantriebs ruckelten, und im nächsten Augenblick schoss das Tor nach oben, sodass ein Drittel der Schneewehe in die Garage fiel. Er schaufelte es wieder hinaus, ließ dann den Motor seines Wagens an und machte sich bereit, den neuen Arbeitstag zu beginnen.
Sein Tag fing mit dem Frühstück an. Er hatte sich angewöhnt, wie viele Geschäftsleute in Kleinstädten außer Haus zu frühstücken. Ein Coffeeshop, etwas ironisches Geplänkel, ein we nig Kontaktpflege, neue Verbindungen knüpfen. Alles wertvoll, aber kein Grund, länger als eine halbe Stunde Zeit zu investieren. Höchstens eine Dreiviertelstunde. In letzter Zeit verbrachte er täglich mindestens eine Stunde in seiner Sitznische. Manchmal auch anderthalb.
Er fürchtete sich davor, ins Büro zu gehen.
Die Telefonnotizen in der Anwaltsfirma waren gelb. Seine Sekretärin überreichte ihm jeden Morgen einen ganzen Stapel davon. Die meisten waren harmlos. Aber auf manchen stand: Mandant bittet um Besprechung wegen Fall Nr. 517713. Aber es gab keinen Fall mit dieser Nummer. Keine Akte. Überhaupt nichts Schriftliches. In Wirklichkeit waren diese Mitteilungen ein verschlüsselter Befehl, ins Gefängnis zu fahren und sich Anweisungen, die nicht aufgeschrieben werden durften, diktieren zu lassen.
An den meisten Tagen bekam er keine derartige Aufforderung. An anderen dagegen schon. Sie ließen sich nie vorhersagen. Zu seinem Morgenritual gehörte es jetzt, mit ausgestreckter Hand und klopfendem Herzen vor dem Schreibtisch seiner Sekretärin zu stehen und darauf zu warten, was das Leben ihm als Nächstes antun würde.
Während ihrer Fahrt in die Stadt sah Reacher nichts als Schnee. Schnee auf dem Boden, Schnee in der Luft, Schnee überall. Die Welt wirkte langsam, still und irgendwie geschrumpft. Der schwache Verkehr bewegte sich in den Fahrspuren in der Straßenmitte. Aus zusammengepresstem Schnee ausgestanzte Quadrate wurden hinter Autoreifen hochgeschleudert. Kleine Konvois bildeten sich und krochen mit zwanzig Meilen oder weniger dahin. Petersons Streifenwagen war warm, sicher und solide. Ein schweres Gefährt mit Winterreifen vorne und Schneeketten hinten, auf ebener Straße. Kein Problem.
Bei Tageslicht und Schneefall sah die Polizeistation länger und niedriger aus als nachts. Sie war ein weitläufiges ebenerdiges Gebäude aus weißem Kalksandstein, dessen Flachdach mit Mikrowellenschüsseln und Funkantennen auf Stahlgittermasten bestückt war. Sie erinnerte Reacher an den Standardtyp eines Dienstgebäudes einer State Police. Vielleicht war der Bauplan einfach übernommen worden. Auf dem Parkplatz standen überraschend viele Streifenwagen, die meisten mit noch warmem Motor, gerade eben geparkt. Vermutlich die Beamten der Tag schicht, die zu einer Besprechung vor Dienstbeginn um 8.30 Uhr gekommen waren. Zwischen den Autos fuhr mit
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