61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Uniformierten hatten ihre Position getauscht. Dies war die Frau, die vorher an der Terrassentür gestanden hatte. Sie war groß und trug ihr blondes Haar zu einem sportlichen Pferdeschwanz zusammengefasst. Ihre Rechte lag auf dem Griff ihrer Dienstwaffe. Sie wirkte wachsam, aber nicht verkrampft. Professionell vorsichtig, aber über diese winzige Unterbrechung der sonstigen Routine glücklich.
Reacher hängte seinen geliehenen Parka an den Kleiderständer und ging in die Bibliothek. Janet Salter saß im selben Sessel wie zuvor, las aber nicht. Hinter ihr stand die Polizeibeamtin von der Eingangshalle, die kleine Dunkelhaarige. Sie starrte durch die Terrassentür in die Nacht hinaus. Die Vorhänge waren nicht zugezogen.
Janet Salter sagte: »Sie mussten fort, bevor Sie Ihren Kaffee austrinken konnten. Soll ich Ihnen frischen Kaffee machen?«
»Immer«, antwortete Reacher. Er folgte ihr in die Küche und verfolgte, wie sie den alten Perkolator füllte. Die Wasserhähne über dem Ausguss waren ebenso alt. Trotzdem wirkte hier nichts defekt oder heruntergekommen. Gutes Material war gutes Material, unabhängig davon, wann man es installiert hatte.
Sie sagte: »Wie ich höre, werden Sie hier übernachten.«
Er sagte: »Nur wenn’s Ihnen keine Mühe macht.«
»Hat es Ihnen bei den Petersons nicht gefallen?«
»Doch, doch. Aber ich mag anderen Leuten nicht zu lange zur Last fallen.«
»Eine Nacht war zu lange?«
»Sie haben genügend eigene Probleme.«
»Sie reisen leicht.«
»Was Sie sehen, ist, was Sie bekommen.«
»Das hat Mr. Peterson mir erzählt.«
»Oder hat er Sie eher gewarnt?«
»Ist das eine Phobie? Oder eine Philie? Oder eine bewusst existenzielle Entscheidung?«
»So eingehend habe ich mich nie damit beschäftigt.«
»Eine Phobie wäre natürlich eine Angst, vielleicht vor Bindungen oder Verpflichtungen. Eine Philie würde Liebe bedeuten, vielleicht zu Freiheit oder Ungebundenheit. Theoretisch grenzt eine Philie allerdings an abnorme Verhaltensmuster, in Ihrem Fall vielleicht ein Geheimhaltungstrieb. Leute, die unter dem Radar fliegen, müssen sich nach dem Grund dafür fragen lassen. Ist das Radar inakzeptabel, oder ist das Gelände dort unten einzigartig reizvoll?«
»Vielleicht ist die dritte Deutung richtig«, erwiderte Reacher. »Existenziell.«
»Ihre Abneigung gegen Eigentum ist ein bisschen extrem. Aus der Geschichte wissen wir, dass Askese reizvoll sein kann, aber selbst die größten Asketen hatten immerhin Kleidung. Wenigstens ein härenes Gewand.«
»Machen Sie sich über mich lustig?«
»Ich denke, Sie könnten es sich leisten, eine kleine Reisetasche mitzuführen. Das würde nichts daran ändern, was Sie sind.«
»Leider doch, fürchte ich. Außer sie wäre leer, was keinen Sinn ergäbe. Um nur eine kleine Tasche zu füllen, muss man auswählen, entscheiden und bewerten. Dieser Vorgang hat kein logisches Ende. Bald hätte ich eine größere Tasche, dann zwei oder drei. Einen Monat später wäre ich wie Sie alle.«
»Und das erschreckt Sie?«
»Nein, wie alle anderen zu sein, wäre bequem und beruhigend, glaube ich. Aber manche Dinge sind einfach nicht möglich. Ich bin eben anders veranlagt.«
»Ist das Ihre Antwort? Dass Sie anders veranlagt sind?«
»Ich denke, dass klar ist, dass wir alle unterschiedlich veranlagt sind.«
Janet Salter goss den Kaffee ein – diesmal direkt in hohe Porzellanbecher, als hielte sie Silbertablett, Sahnekännchen und Zuckerschale für einen Asketen nicht angemessen. Oder als hätte sie bemerkt, wie unwohl Reacher sich mit der kleinen Tasse gefühlt hatte.
Sie sagte: »Unabhängig davon, wie die genaue Diagnose in Ihrem Fall lauten müsste, bin ich froh, Sie im Haus zu haben. Sie können gern bleiben, solange Sie wollen.«
17.55 Uhr.
Noch vierunddreißig Stunden.
Nachdem der Kaffee getrunken war, machte Janet Salter sich daran, das Abendessen zuzubereiten. Reacher erbot sich, auswärts zu essen, aber sie sagte, für sechs zu kochen mache nicht mehr Arbeit als für fünf, woraus er schloss, dass die beiden Polizeibeamtinnen, die Nachtdienst hatten, zum Essen aufstehen und mit ihren Kolleginnen eine Vierergruppe bilden würden. Das war beruhigend.
Mit ihrer Erlaubnis nutzte er die Zeit bis zum Abendessen dazu, das Haus zu inspizieren. Das Erdgeschoss und der erste Stock interessierten ihn nicht. Er wollte den Keller sehen. In South Dakota gab es Tornados, und er war sich ziemlich sicher, dass jedes solide gebaute Haus über einen als
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