61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
»Das ist nicht zulässig, Chief Holland. Vorschriften sind Vorschriften. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Mit Mr. Reacher im Haus passiert mir nichts.«
Holland blieb noch einen Augenblick stehen, dann nickte er wieder, diesmal entschiedener. Sein Entschluss stand fest. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus. Der Motor seines Wagens lief noch. Hinter dem Kofferraum hatten sich dünne Abgasschwaden gebildet. Er stieg ein, wendete und fuhr rasch davon. Das leise Rasseln seiner Ketten auf der Schneedecke verhallte.
Reacher schloss die Tür.
Im Haus war es wieder still.
Taktisch gesehen wäre es am besten gewesen, Janet Salter dazu zu bringen, sich im Keller einzuschließen. Aber sie weigerte sich. Sie stand in der Eingangshalle – mit einer Hand am Griff des Revolvers in ihrer Jackentasche – und sah sich nach allen Seiten um, als begriffe sie plötzlich, dass die vier Wände, die ihr Schutz bieten sollten, in Wirklichkeit nur vier verschiedene Zugänge waren. Überall gab es Türen und Fenster. Jede und jedes konnte im nächsten Augenblick aufgebrochen oder eingeschlagen werden.
Die zweitbeste Lösung hätte daraus bestanden, sie in ihrem Schlafzimmer unterzubringen. Im ersten Stock wurde viel seltener eingebrochen als im Erdgeschoss. Aber sie wollte auch nicht nach oben. Sie sagte, dort fühle sie sich ohne Fluchtmöglichkeit eingesperrt.
»Sie werden nicht flüchten«, sagte Reacher. »Sie werden schießen.«
»Aber doch nicht, wenn Sie hier sind?«
»Zwölf Löcher in dem Kerl sind besser als sechs.«
Sie schwieg einen Augenblick und musterte ihn wie einen Alien.
Sie fragte: »Sollten Sie nicht draußen patrouillieren?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich würde viel zu lange brauchen, um notfalls von vorn nach hinten zu gelangen. Und mit Handschuhen würde mein Finger nicht in den Abzugbügel passen, denn in diese Kälte kann man nicht ohne Handschuhe hinaus.«
»Dann warten wir also einfach hier drinnen?«
Reacher nickte. »Richtig. Wir warten hier drinnen.«
Sie warteten im Salon, den Reacher für am besten geeignet hielt. Er führte nach vorn hinaus, und angesichts der Neuschneemengen war ein Frontalangriff am wahrscheinlichsten. Und selbst wenn es keinen Einbruchsversuch gab, blieb der Salon der sicherste Raum. Seine Größe hinter der umlaufenden Veranda bedingte, dass ein Scharfschütze sich frei vor dem Haus hätte aufbauen müssen, um zum Schuss zu kommen. Er wäre aus zwanzig Schritt Entfernung entdeckt worden, bevor er das Gewehr auch nur hätte anlegen können.
Es gab viele weitere mögliche Gefahren. Handgranaten oder Molotowcocktails standen ganz oben auf der Liste. Wurden sie jedoch damit angegriffen, spielte es keine Rolle, in welchem Raum sie sich befanden.
Die Standuhr tickte über einundzwanzig Uhr hinaus und bezeichnete so das Ende ihrer ersten Stunde ohne Polizeischutz. Die Straße vor dem Haus blieb menschenleer. Reacher machte einen Kontrollgang durchs Erdgeschoss. Die Haustür, abgesperrt. Alle Fenster, geschlossen. Die Terrassentüren in der Bibliothek, geschlossen. Der Hinterausgang, abgesperrt. Alle Fenster im ersten Stock, geschlossen. Fast alle waren nur mit einer Leiter zu erreichen. Die einzige Ausnahme stellte ein Schlafzimmerfenster direkt über dem rückwärtigen Verandadach dar. Aber dort lagen Unmengen Schnee. Das Dach würde vereist und rutschig sein. Keine Gefahr.
Das Wetter änderte sich. Ein leichter Wind kam auf. Der Nachthimmel wurde klar. Der Mond verbreitete sein Licht, und einzelne Sterne waren sichtbar. Die Außentemperatur war im Begriff abzustürzen. Vor allen Fenstern, die Reacher kontrollierte, lag eine dünne Luftschicht, die vor Kälte zu pulsieren schien. Der Wind machte alles nur noch schlimmer. Er fand unsichtbare Spalten, erzeugte unsichtbare Zugluft und saugte die Wärme aus dem ganzen Haus.
Der Wind erschwerte auch die Überwachung. Er produzierte die seltsamsten Laute. Raschelnde, knisternde, knackende Geräusche, das spröde Scheuern kältestarrer Zweige, dumpfe Klick- und Klonklaute von gefrorenen Ästen, ein leises Heulen von bizarr vereisten Stromleitungen. Keines dieser Geräusche war wirklich laut, aber Reacher hätte auf sie verzichten können. Er war darauf angewiesen, das leise Knirschen von Schritten im Neuschnee zu hören, und die Chancen, dass ihm das gelang, verringerten sich stetig. Und Janet Salter sprach gelegentlich, was alles noch schlimmer machte, aber er wollte ihr nicht den Mund verbieten. Sie war
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