616 - Die Hoelle ist ueberall
menschlichen Fassungsvermögens und der wissenschaftlichen Erkennt-nisse liegt. Diese Geistlichen waren allesamt Jesuiten wie Cloister auch und unterstanden direkt dem Papst. Sie arbeiteten teilweise inkognito, notfalls auch mit gefälschter Identität; es waren Männer des Glaubens, bewandert in Wissenschaft, Technologie, Geschichte, Mythologie, Symbolik, alten Sprachen, Psychologie, Spionagetechniken. Männer, die das Selt-samste vom Seltsamen untersuchten, um ein Phänomen entweder endgültig zu widerlegen oder unwiderlegbar zu beweisen. Sie nannten sich »die Wölfe Gottes«. Ja, Wölfe, denn manchmal braucht es Wölfe, um die Schafe des Herrn zu be-schützen.
Schon als kleines Kind hatte Cloister Scharfsinn bewiesen und echte Neugier auf die ihn umgebende Welt an den Tag gelegt. Er las lieber Bücher, während seine Schulkameraden Comics anschauten. Schon immer hatte er gespürt, dass er anders war. Zunächst hatte er dies als Last empfunden, doch später, als er die Gründe verstand, hatte er sich deswegen nicht mehr minderwertig gefühlt. Seine umgängliche Art veranlasste ihn, sich den anderen anzupassen. Er war ein sehr extrovertierter Junge, der sich dennoch nicht ganz wohl fühlte in dieser Welt. Einige Jungen hegten gewisse Vorbehalte ge-gen ihn, und die Mädchen beachteten ihn kaum. Schon in sehr jungen Jahren, als er noch fast ein Kind war, verspürte er zum ersten Mal den Wunsch, Priester zu werden. Er kam aus einer gut katholischen, allerdings nicht besonders religiösen Familie. Trotzdem brachte er allem Heiligen große Hochach-tung entgegen.
Ein einziges Mal war er versucht gewesen, den Weg des Glaubens zu verlassen. Das war mit siebzehn Jahren gewesen, in einem gemischten Sommerlager, in das seine Eltern ihn geschickt hatten. Dort hatte er Paula Loring kennengelernt, ein gleichaltriges Mädchen mit blonden Haaren und großen grünen Augen, die drei, vier Jahre älter als er wirkte und in die er sich unsterblich verliebte. Die Hälfte der Ferien suchte er nach einem Weg, sie anzusprechen, ohne dass ihr sein rotes Gesicht und seine Verlegenheit auffielen. Wenn er sie sah, war sie von einem unsichtbaren Licht umgeben. Er war schüchtern im Umgang mit Mädchen, und das stand ihm im Weg. Doch dann tat sie den ersten Schritt. Es war das Jahr 1989, und im Radio lief die neueste Platte von Roy Orbison mit seinem Südstaatenakzent. Ein Lied – She’s A Mystery To Me – und eine sternenklare Nacht mitten auf einer Wiese mit einem großen See, umgeben von Bergen, an einem Lagerfeuer … Jenes Mädchen machte ihn so glücklich, wie er nie zu träumen gewagt hätte.
Die folgenden Wochen waren so berauschend wie Wein, so süß wie Honig, so heiter wie eine Vogelschar in der Mor-gensonne. Es waren Tage der Sorglosigkeit, der Freiheit, wie nur die Jugend sie den Menschen spüren lässt. Albert empfand die Liebe wie einen heiteren Pfeil, der bis ins Zentrum seines Herzens vorgedrungen war. Er entdeckte die Sinnlichkeit und die Sexualität. Doch der Sommer ging zu Ende, er kehrte nach Chicago zurück, Paula nach Philadelphia, und die Bäu-me verloren ihre Blätter. Beide versprachen, einander zu schreiben, sich wiederzusehen, sich weiter zu lieben, ihre so perfekte Beziehung fortzusetzen.
Doch schon nach wenigen Monaten kam für Albert die Ernüchterung. Anfangs schrieb Paula ihm häufig und rief ihn an. Doch allmählich wurden ihre Lebenszeichen immer seltener, die Hitze wich der Kälte. Dieses traurige Ende seiner Liebe fiel mit der schlimmsten Zeit in Alberts Leben zusammen, dem Tod seines Bruders John.
John war sein einziger Bruder und vier Jahre älter als er. Von klein auf hatte Albert ihn verehrt. Er sah in ihm das Vorbild, dem er nacheifern wollte. John war beliebt, gewann immer im Sport, die Mädchen himmelten ihn an, und er be-kam stets gute Noten. Bis sein Verhalten sich wenige Jahre vor seinem Tod änderte. Er gab seine Freundschaften auf und zog sich zurück. Er ging kaum noch aus, außer wenn er zum College musste. Man sah ihn nicht mehr lachen, nichts bereitete ihm noch Vergnügen. Eines Tages gestand er seinen El-tern den Grund für seinen Kummer: Ihm war klargeworden, dass er homosexuell war. Albert litt still darunter, dass sein Vorbild in tausend Stücke zersprang. Als er davon erfuhr, war er erst fünfzehn, und seine Persönlichkeit hatte sich noch nicht gefestigt. Sein Vater sprach mit ihm und erklärte ihm, er dürfe sich niemals über seinen Bruder lustig machen, und er dürfe nicht
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