616 - Die Hoelle ist ueberall
denken, dass dessen sexuelle Orientierung etwas Schlechtes sei. Albert hielt sein Versprechen. Zum Glück für John waren die Eltern verständnisvoll. Sie taten ihr Möglichstes, um alles Leid von ihrem Sohn fernzuhalten, doch vergeblich. Weihnachten 1989 beging John Selbstmord, indem er sich von der Monroe Street Bridge ins eisige Wasser des Chicago River stürzte.
Seiner Familie hinterließ er eine Nachricht, die bloß aus zwei Worten bestand, einer Bitte um das, was ihm selbst nicht gelungen war: »Verzeiht mir.«
Im Jahr darauf trat Albert ins Priesterseminar der Jesuiten in New York ein. Der Tod seines Bruders war ein schrecklicher Schlag für ihn gewesen. Und die Liebe hielt nicht, was sie versprach. Das Leben war vergänglich. Es herrschte große Ungerechtigkeit auf der Welt, und das Böse lauerte überall. Einzig die Suche nach dem Guten und der Wahrheit in Gott konnte dem Leben einen echten Sinn verleihen und einen Ausgleich für die Nichtigkeit der kurzen Zeitspanne bilden, die jedem Menschen gegeben war.
Albert tat sich in den Naturwissenschaften hervor, und so schickte sein Orden ihn nach einem Doktortitel in Theologie an die Universität Chicago – jene legendäre Institution, an der Enrico Fermi den ersten Kernreaktor der Geschichte in Betrieb genommen hatte. Alberts Noten waren sehr gut und seine Arbeitshaltung zufriedenstellend. Seinen Ordensoberen fiel bald auf, dass dieser junge Mann etwas taugte und talen-tiert war. Nach Abschluss seiner Ausbildung sandten sie ihn nach Rom, wo er in der Kongregation für die Selig-und Heiligsprechungsprozesse arbeiten sollte. Doch dann betrauten sie ihn mit einer bedeutsameren Aufgabe, zu der nur die Bes-ten, Fähigsten und Loyalsten auserwählt wurden: die Wölfe Gottes.
Albert wusste nun von Dingen, von denen er zuvor nichts geahnt hatte: bisher unbekannte Vorgänge im menschlichen Gehirn, unerklärliche Vorfälle, Kräfte jenseits des bisher Er-forschten, allesamt zugleich stimulierend wie auch erschreckend. Doch der Blick blieb dabei stets auf den Allerhöchsten gerichtet, die Phänomene wurden als Beweis seiner grenzen-losen Macht, seiner geraden Handschrift auch auf krummen Zeilen betrachtet. Alles führt zu Gott und alles hat Teil an seiner Herrlichkeit, glaubte Albert Cloister. Doch bei diesem Auftrag ergriff ihn eine tiefe Unruhe, so dass er keinen inneren Frieden mehr fand in einer Welt des immerwährenden Krieges, was ihm sonst allem Schmerz und allen Widrigkeiten, allen Schwierigkeiten und aller Gefahr zum Trotz noch stets gelungen war.
Jetzt aber verspürte er – zum ersten Mal – echte Angst. Er hatte Schreckliches gesehen, doch immer hatte er eine Erklä-rung dafür finden können. Die fehlte diesmal, und das löste Beunruhigung und vor allem Angst in ihm aus.
Nach einigen Minuten des Gebets im Mittelschiff von Notre-Dame ging er wieder hinaus und unternahm einen ausgedehnten Spaziergang entlang der Seine. In seine Gedanken versunken, überquerte er den Pont au Change und ging weiter, über die île de la Cité und die île Saint Louis nach Südosten Richtung Gare d’Austerlitz. Er musste seine Gedanken ordnen. Die gebrochenen Knochen des spanischen Priesters, die gebrochenen Knochen der alten Dame, mit der er soeben gesprochen hatte … Der Schmerz, die furchterregenden Visionen und dieses sonderbare Phänomen mussten irgendwie zusammenhängen. »DIE HÖLLE IST ÜBERALL.« Was bedeutete dieser Satz eigentlich? Ist die Welt eine Hölle, und nach dem Tod erwartet uns eine weitere Verdammnis, eine weitere Hölle? Vielleicht hatte Gott sich der Sünden seiner Geschöpfe wegen von ihnen losgesagt, vielleicht war er der Vergebung überdrüssig und verdammte sie nun erbarmungslos? Aber … was war mit den Gottesfürchtigen? Mit den Guten?
In seiner ledernen Aktentasche befanden sich drei Berichte, die in indirektem Zusammenhang mit dem Fall standen, den er gerade untersuchte. In allen ging es um Personen mit Nah-tod-Erfahrungen, die wie die alte Französin etwas mehr als das weiße Licht, das die Seelen friedlich anzieht, gesehen hatten. Etwas Böses. Solche Erfahrungen machte etwa jeder Zwanzigste, also fünf Prozent aller Menschen mit Nahtod-Erfahrungen. In den Fernsehreportagen über Nahtod-Erfahrungen kommen sie normalerweise nicht vor. Die Menschen haben nicht gerne Angst vor realen Dingen. Und früher oder später erwartet uns alle der Tod, vielleicht lauert er schon hinter der nächsten Ecke. Die meisten denken nicht gerne darüber nach,
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