616 - Die Hoelle ist ueberall
auch wenn der Tod unausweichlich ist. Oder vielleicht gerade deshalb.
Doch keine der Personen, deren Berichte Cloister in seiner Aktentasche hatte, war mit gebrochenen Knochen aufgewacht oder mit unerklärlichen Verletzungen ins Leben zurückgekehrt. Man hatte die Berichte ausgewählt, weil darin von ei-ner ausgeprägt bösen Präsenz die Rede war, stärker ausgeprägt sogar als in den negativen Erlebnissen üblich, aus denen die beunruhigenden fünf Prozent bestanden. Es handelte sich um ganz normale Menschen. Es gab keine offensichtliche Erklä-rung für ihre Visionen, ebenso wenig wie im Fall des spanischen Geistlichen eine Grabschändung vorlag oder die alte Dame das Opfer eines Übergriffs von Seiten eines Geistesge-störten geworden war. Beides war völlig unerklärlich. Das hatte Cloister sich bereits tausendmal gesagt. Die einzige Er-klärung, die ihm einleuchtete, war, dass diese Menschen auf ihrer Reise ins Jenseits deutlich weitergekommen waren als die anderen. So weit, dass sie bei der Rückkehr einen körperlichen Schaden davongetragen hatten … Aber das war nicht mehr als eine Mutmaßung.
Pater Cloister setzte sich auf eine Bank am Fluss. Er hatte das Rauchen aufgegeben, doch im Augenblick fiel es ihm schwer, durchzuhalten. Er steckte sich ein Nikotinkaugummi in den Mund und begann zu kauen, während er die Berichte aus der Aktentasche zog. Er ordnete sie nach Datum: Marcial Bernárdez, peruanischer Gärtner, 1993; Edith Sommerfeld, österreichische Hausfrau, 1998; Evelyn Taylor, Leiterin einer Modelagentur in New York, 2001.
MARCIAL BERNÁRDEZ MENA
Lima, Peru.
Gärtner, Staatsbediensteter.
Datum des Vorfalls: 5-Februar 1993.
Datum der Befragung: 28. August 1993.
Alter zum Zeitpunkt des Vorfalls: 39 Jahre.
Ursache seiner Nahtod-Erfahrung: Bei einem durch einen Erdrutsch ausgelösten Autounfall, bei dem das Fahrzeug, in dem sich eine Gruppe Gärtner befand, abstürzte, wurde Marcial Bernárdez die Wirbelsäule durchtrennt. Seine Kollegen versorgten ihn; bis zur Ankunft der Rettungsmannschaft dauerte es mehrere Stunden. Während des Transports ins Krankenhaus erlitt Marcial Bernárdez einen Herzinfarkt und wies trotz der Wiederbelebungsmaßnahmen der Sanitäter eine hal-be Stunde lang keinen Puls auf. Man erklärte ihn für tot, doch etwa eine Stunde später begann sein Herz von selbst wieder zu schlagen.
Auszug aus seiner Aussage: Nachdem er vollständig das Bewusstsein verloren hat, hüllt absolute Schwärze seine Sinne ein. Der Befragte beschreibt diesen Zustand als »tiefen Brunnen«. Er hat kein Zeitgefühl. Nach unbestimmter Zeit kehrt er allmählich zurück, so kommt es ihm jedenfalls vor. Er meint, Geräusche zu hören und Bilder zu sehen. Vor sich sieht er einen Tunnel mit dunklen Wänden, der in einem ein wenig höher gelegenen, blinkenden weißen Licht endet. Ein alles durchdringendes Flüstern ruft ihn und bittet ihn, sich dem Licht zu nähern. Dies tut er vertrauensvoll. Er verspürt keinerlei Kummer mehr. Er geht, ohne zu gehen, kaum merklich, unwirklich. Er erreicht eine Art weiße Scheibe und durchquert sie. Das freundliche Murmeln verwandelt sich in einen gellenden Schrei. Das Licht wird schwächer und ver-färbt sich rot. Es blendet ihn nicht mehr; vielmehr kann er von einer Art Aussichtspunkt alles sehen. Was er sieht, erfüllt ihn mit Schrecken und erschüttert ihn. Es lässt sich mit nichts Bekanntem vergleichen: gestaltloses Leiden, Lichtblitze, die sich in Münder zu verwandeln scheinen, welche um Erlösung flehen. Und ein Schatten, der sich zwischen den Schatten verbirgt. Damit endet sein Erlebnis. Bei seiner Rückkehr erinnert er sich an nichts weiter. Doch ohne zu wissen, warum, ist er sicher, dass da noch mehr war.
EDITH FÖRSTER-SOMMERFELD
Linz, Österreich.
Hausfrau, ehemals Verkäuferin in einem Blumenladen.
Datum des Vorfalls: 31. Januar 1998.
Datum der Befragung: 15. März 1998.
Alter zum Zeitpunkt des Vorfalls: 60 Jahre.
Ursache ihrer Nahtod-Erfahrung: Herzstillstand aufgrund ei-nes Stromschlags in der Küche ihrer Wohnung, wo sie allein lag, bis sie zur Essenszeit von einem ihrer Söhne gefunden wurde. Zeit ohne Pulsschlag: unbestimmt. Sie lag sicherlich mehrere Stunden so da, doch es lag ein ungewöhnlicher Um-stand vor. Im Sturz schlug sie mit dem Kopf gegen die Hin-tertür, und diese öffnete sich. Als man sie fand, lag die Temperatur im Raum bei etwa null Grad. Die möglichen Auswir-kungen dieses Faktors haben die Arzte nicht
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