616 - Die Hoelle ist ueberall
zufriedenstellend klären können. Auszug aus ihrem Bericht: Sie stürzt jäh in völlige Dunkelheit, gefolgt von einer Art Aufblitzen, sicherlich aufgrund des Stromschlags. Dann leuchtet wie in »Zeitlu-pe« ein trübes Licht auf, und bereits verstorbene Angehörige und Freunde der Verunglückten ziehen an ihr vorbei. Sie verspürt weder Angst noch Euphorie. Vielmehr befindet sich der Geist von Frau Sommerfeld in einem Zustand bar jeder Emotionen. Dies ändert sich, als das Licht plötzlich heller wird und sich in einem Punkt bündelt. Dorthin bildet sich ein Tunnel. Nun treten Emotionen auf: der Wunsch, auf das Licht zuzugehen und diese Welt des irdischen, körperlichen Lebens hinter sich zu lassen. Aber eine neue Kraft kämpft gegen diese letzte Reise an: die immaterielle Präsenz der Kin-der der Frau verhindert, dass der Gang zum Licht heiter ver-läuft. Dennoch geht sie weiter, bis sich eine schreckliche Un-ruhe ihres Geistes bemächtigt. Sie sieht verkrüppelte, defor-mierte Körper. Eine böse Präsenz erscheint, eine Art Feuerwesen, allerdings besitzt es bis auf die Augen keine klaren Umrisse. Es sind ausdruckslose, ruhige Augen, doch sie sind schrecklich anzusehen. Im letzten Moment dreht Frau Sommerfeld um und erhält einen erneuten Impuls in Richtung ihrer Kinder, die ihren Tod beweinen. So kehrt sie ins Leben zurück, mit dem furchtbaren Gefühl, dass die feuerumrande-ten Augen ein Geheimnis bergen, das sie nie ergründen wird, das aber da war und jedes vorstellbare Grauen bei weitem übertrifft.
EVELYN TAYLOR
New York City, Vereinigte Staaten.
Leiterin der Modelagentur Gloria Tebaldi in Amerika.
Datum des Vorfalls: 27. September 2001.
Datum der Befragung: 23. November 2001.
Alter zum Zeitpunkt des Vorfalls: 52 Jahre.
Ursache ihrer Nahtod-Erfahrung: Allergische Reaktion auf eine Speise in einem japanischen Restaurant. Die Reaktion war so heftig, dass die ersten Symptome noch während des Essens auftraten. Die Rettungssanitäter konnten sie stabilisie-ren; in kritischem Zustand kam sie ins Krankenhaus. Nach zwei Tagen auf der Intensivstation starb sie. Ihre spontane Wiederbelebung erfolgte im Leichenraum. Auszug aus ihrem Bericht: Sie sieht sich selbst von außen. Die Ärzte machen sich an ihr zu schaffen, versuchen sie zu retten. Draußen war-ten Menschen und weinen untröstlich. Sie will sich ihnen nähern, um sie zu trösten, um ihnen zu sagen, dass es ihr gut geht. Doch sie hören sie nicht. Niemand bemerkt sie. Ein Gefühl nicht so sehr von Angst, sondern von Beklemmung bemächtigt sich Mrs Taylors. Sie versucht, auf die Intensivstation zurückzukehren. Ihr lebloser Körper liegt im Bett. Schließlich begreift sie. Da verspürt sie einen Impuls nach oben. Sie steigt in die Höhe und entfernt sich vom Krankenhaus und von der Welt, und im gleichen Maße verdunkelt sich ihr Gesichtsfeld. Nun gibt es keine Bezugspunkte mehr. Sie schwebt an einem zeitlosen Ort ohne echte räumliche Eigenschaften. Plötzlich entdeckt sie so weit weg, dass sie die Entfernung nicht schätzen kann, eine Art Prozession grauer Gestalten. Es gibt kaum Licht, und sie kann keine Einzelheiten erkennen. Alle nähern sich einem rechteckigen Gebilde. Es ist ihr eigenes Grab. Das begreift sie, als sie den Sarg sieht und – jetzt ist es etwas heller – die Gesichter ihrer Angehöri-gen und Freunde. Sie versucht erneut, mit ihnen zu sprechen, sie schreit sogar, doch vergeblich. Sie sieht kein weißes Licht und keinen Tunnel; ebenso wenig Szenen aus ihrem Leben. Sie muss mit ansehen, wie die Menschen, die an dieser ge-spenstischen Beerdigung teilnehmen, rasch altern und von einem unsichtbaren Loch verschluckt werden, wobei sie ein Angstgeheul ausstoßen. Zudem bemerkt sie die Anwesenheit eines körperlosen Schattens, eines Bewusstseins, das aus der Dunkelheit heraus beobachtet. Diese böse Präsenz steuert das Ganze.
In allen drei Berichten kam das Böse vor, war allgegenwär-tig. Cloister hatte den beunruhigenden Eindruck, als hätten nur diejenigen, die über einen gewissen Punkt hinaussehen konnten, die eine gewisse Schwelle erreichten, welche den meisten versagt blieb, eine vollständige Vision gehabt: Tun-nel, weißes Licht, Frieden, Ruhe, Freude, und dann Verdun-kelung, rotes Licht, Entsetzen, Verzweiflung … Vor allem Verzweiflung.
Und noch etwas. Etwas, woran sich keiner von ihnen wirklich erinnern konnte, das wahrgenommen zu haben sich aber alle sicher waren. Etwas war aus ihrem Gedächtnis ge-löscht worden,
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