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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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erbracht. Sie hatte ihm kaum Einzelheiten über seine Alpträume entlocken können. Was sie über seinen Geisteszustand wusste, hatte sie eher dem entnommen, was ihr die Oberin und ande-re Nonnen erzählt hatten, als dem, was Daniel preisgegeben hatte. Das war selbstverständlich kein guter Beginn. Allerdings war in ihrem Beruf kaum ein Beginn gut – das Ende übrigens auch nicht –, und was konnte man hier schon erwarten, da Daniel geistig behindert war? Die Nonne hatte Audrey grausam genannt, weil sie angedeutet hatte, dass dem alten Gärtner eine Psychotherapie nichts nützen würde, doch das war die nackte Wahrheit. Und heißt es etwa nicht, die Wahrheit befreit? Doch solche Argumente waren hier bedeutungslos. Die-se Schlacht hatte sie von vornherein verloren. Es war schwer, der Oberin etwas abzuschlagen. Deshalb würde Audrey in einer Woche ein weiteres fruchtloses Gespräch mit ihrem geistig behinderten Patienten und seiner toten Blume führen. Sie hatte ihre Eindrücke von Daniel aufgeschrieben, wie sie es bei anderen Patienten auch tat. Die Akte trug auf der Vorderseite seinen Namen, Daniel Smith, sowie das Datum des ers-ten Behandlungstages. Aus Gewohnheit ging Audrey ihre Notizen nochmals durch, indem sie sie laut las:
     
    Bei dem Patienten sind eindeutige Anzeichen von posttraumatischem Stress infolge des Brandes zu erkennen, der das Haus zerstörte, in dem er sein gesamtes Leben gewohnt hatte. Folgende Faktoren kommen erschwerend hinzu: die Tatsache, dass er beinahe dabei umgekommen wäre, die körperlichen Folgeerscheinungen und die neue Umgebung nach dem erforderlichen Umzug.
    Das Trauma scheint sich vor allem in Form von schrecklichen Alpträumen zu manifestieren. Dieses Syndrom nächtlicher Verwirrtheit darf man als symptomatisch ansehen, denn die Alpträume beinhalten Elemente, die mit der Hauptursache des Traumas, dem Brand, in Verbindung gebracht werden können (siehe Punkt 5 über den Inhalt der Alpträume).
    Der Patient ist geistig behindert. Es ist daher anzunehmen, dass er sich dessen, was ihm zugestoßen ist, nicht voll bewusst ist und die schwersten Symptome des Traumas sich daher in einer unbewussten Phase zeigen: während er schläft. Das wür-de die Heftigkeit der Alpträume erklären. Andere mögliche Symptome wie die ausweichende Beantwortung von Fragen, die sich direkt auf den Brand beziehen, sowie Fragen zu sei-nen Alpträumen, die sich indirekt auf den Brand beziehen, lassen sich im Augenblick nicht als Folge des posttraumatischen Stresses bestätigen. Der geistige Zustand des Patienten macht es unmöglich, daraus die gleichen Schlüsse zu ziehen wie bei einem geistig nicht behinderten Patienten.
    Der Patient zeigt eine übertriebene Anhänglichkeit an eine tote Pflanze. Sie ist das Einzige, was ihm aus seinem Leben vor dem Brand geblieben ist. Dieses Beispiel unverhältnismä-ßiger Emotionalität könnte ebenfalls ein Symptom des posttraumatischen Stresses sein. Ich habe jedoch erfahren, dass der Patient dieses Verhalten bereits vor dem Brand an den Tag gelegt hatte. Auch hier bedeutet die geistige Behinderung ein Hindernis für die Diagnose und vor allem für eine etwaige psychotherapeutische Behandlung.
    Die Angaben des Patienten zu seinen Alpträumen sind spärlich und ungeordnet; allerdings scheint zwischen ihnen ein gewisser Zusammenhang zu bestehen. Er sprach von toten Pflanzen und Tieren, von ausgetrockneten Flüssen und (von einem Brand?) verwüsteten Feldern; ferner von einem Him-mel »so rot wie Blut« – wörtliches Zitat (das Rot der Flammen?).
     
    Empfohlene pharmakologische Behandlung: weiterhin Gabe von Anxiolytika zusammen mit Antidepressiva. Falls die Symptome nicht nachlassen, über den Einsatz von Neuroleptika nachdenken.
    Audrey schloss die Akte und rieb sich die Augen. Sie war erschöpft. Die Probleme anderer Menschen laugten sie aus, und das war nicht gut für ihre Arbeit als Psychiaterin. Doch was sollte es? Was bedeutete ihr eigentlich überhaupt noch etwas seit jenem Sommernachmittag vor fünf Jahren, an dem ihr Sohn spurlos verschwunden war? …
    Sie musste diesen Gedanken verscheuchen. Manche Erinnerungen schmerzen zu sehr, man gräbt sie besser nicht wie-der aus.
    »Ausgraben«, murmelte sie.
    Wie unpassend dieses klischeehafte Wort doch für Erinnerungen war, die nie gestorben, nie beerdigt worden waren. Traurig erhob Audrey sich aus ihrem Ledersessel und ging ans Fenster. Es war groß, mit einem weißen Holzrahmen und oben sanft gewölbt. Es

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