Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
Vom Netzwerk:
vielleicht zu ihrem Schutz. Oder auch aus einem anderen Grund. Aber aus welchem?
    Frühere Untersuchungen gingen in eine ähnliche Richtung. Wie ein Bücherwurm hatte Cloister sich auf der Suche nach diesen verstreuten Berichten in den Archiven des Vatikan vergraben. Mit Hilfe verschiedener Dokumentationsex-perten war er nach und nach auf Aussagen, Berichte, Erwähnungen von vergleichbaren Vorfällen in der Vergangenheit gestoßen. Die ersten Erwähnungen verloren sich im Dunkel der Zeiten: ägyptische Priester, die sich auf bestimmte Stellen am Kopf schlugen, um einen umkehrbaren Tod herbeizufüh-ren – der nicht immer umkehrbar war. Sie wollten einen Blick in die Welt der Toten werfen. Manche ihrer Berichte waren das Zeugnis von Menschen, die entsetzt mit der Vision eines gestaltlosen Bösen, eines dunklen, gesichtslosen Schattens konfrontiert gewesen waren. Später berichteten einige Mönche im Mittelalter von ähnlichen Erfahrungen. Cloister stieß sogar auf einen Arzt aus dem neunzehnten Jahrhundert, der seine Tage wegen seiner wenig orthodoxen Praktiken im Gefängnis beschließen musste. Er hatte das Verfahren der ägyptischen Priester bei den Geisteskranken in der von ihm geleiteten psychiatrischen Anstalt angewandt.
    Insgesamt handelte es sich nicht um viele Fälle, doch die Last ihrer Bedeutung war erdrückend und deutete stets in eine bestimmte Richtung. Doch noch wusste niemand, in welche Richtung. Noch.
    Pater Cloister erinnerte sich an die auffälligsten dieser Fälle. Ihm schienen sie wie die Überlebenden eines Schiffbruchs, die dagegen kämpfen, vom Wasser verschluckt zu werden, und in ihrem Kampf gegen den Ozean teilweise an die Ober-fläche gelangen, in der Hoffnung, dass jemand sie rettet; allerdings wäre es in manchen Fällen wohl besser gewesen, nicht so weit zu gelangen, ebenso wie mancher Wunsch besser nicht erfüllt würde. Albert Cloister war ein Mann mit einem festen Gottesglauben. Noch inbrünstiger glaubte er jedoch an etwas anderes: die Wahrheit.
    Seine Dissertation, für die er den Doktortitel in Theologie mit der Note cum laude erhalten hatte, endete mit einem Satz, der scheinbar unvereinbar mit der Religion war, in Wirklichkeit und richtig verstanden jedoch die vielleicht tiefste Überzeugung des Menschen zum Ausdruck brachte: »Der Glaube führt uns zur Wahrheit, aber die Wahrheit braucht keine Gläubigen; denn die Wahrheit bedarf nicht des Glaubens, doch der Glaube bedarf der Wahrheit sehr wohl.«
    Die Wahrheit war das Einzige, was er suchte. Das Einzige, wofür er zu jedem Opfer bereit war.
    Seit er Notre-Dame wieder verlassen hatte, hatten sich die Minuten zu Stunden summiert. Die Abenddämmerung wich allmählich der Dunkelheit. Pater Cloister stieg aus dem tiefen Brunnen seiner Gedanken empor, verwahrte die Papiere in seiner Aktentasche, erhob sich und ging langsam los. Das Wasser des Flusses strömte dahin, gleichgültig gegenüber sei-nen Grübeleien. Das Wasser eines Flusses ist nie dasselbe wie noch einen Augenblick zuvor. Dennoch hätte man glauben mögen, dass Albert Cloisters Gedanken in diesem Moment – zäh wie Teer und ebenso dunkel – den Strom der Seine hät-ten aufhalten können.
    Er war besorgt und unruhig. Ehe er in das Kolleg zurückkehrte, in dem ihn seine Kongregation untergebracht hatte, betrat er ein Lokal und kaufte eine Schachtel Zigaretten.

6
    Boston
    Audreys Praxis lag in dem vornehmen Bezirk Back Bay, in einem wieder instand gesetzten Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, das die Eleganz einer vergangenen Epoche mit dem Komfort der modernen Zeit verband. Das Gleiche galt für die Praxis selbst. Kostbare Hölzer bedeckten die Wände halbhoch. Darüber blieb Raum für Gemälde mit Szenen des ländlichen Lebens. Der Teppich in Audreys Behandlungs-zimmer, der ihren Schreibtisch von der unvermeidlichen Couch trennte, auf die ihre Patienten sich legten, war ein echter Perserteppich aus dem Iran. Angesichts seines Preises hätte man schwören können, dass er tatsächlich perfekt war, wäre da nicht dieser eine absichtlich schlecht geknüpfte Kno-ten gewesen, der bei den besten Teppichen die Perfektion verhindert. Man darf Gott nicht die Stirn bieten, indem man versucht, die Dinge so zu tun, wie er sie täte. Das hat immer seinen Preis. Gott mag keine Konkurrenz. Außerdem verabscheut er Vorwürfe, seien sie auch noch so berechtigt. Davon war Audrey überzeugt. Sie fand, sie hatte guten Grund dazu.
    Ihr erstes Gespräch mit Daniel hatte nicht allzu viel

Weitere Kostenlose Bücher